Apologie des Meisterdenkers

■ Zur deutschen Erstaufführung von Michel Deutschs Heidegger-Stück „Sit venia verbo“

Gerhard Preußer

Dramatisierte Philosophie - zum Gähnen. Aber wenn Dichter Theaterfiguren sein können, warum nicht auch Denker? Nach Lessing, Goethe, Hölderlin, Toller und Brecht erscheint nun Heidegger auf der Bühne. So kommt die Philosophie doch noch zur dramatischen Darstellung, auf dem Umweg über die Biographie. Denn was Heideggers Philosophie in die Schlagzeilen brachte, war das Interesse an seiner Biographie.

Die Heidegger-Debatte, die vor zwei Jahren durch Victor Farias Biographie des Meisterdenkers aus Meßkirch in Frankreich und Deutschland wieder angefacht wurde, dreht sich seit 40 Jahren um die Frage des Verhältnisses von Leben und Werk. War Heideggers Eintreten für den Nationalsozialismus 1933/34 Zufall oder Unfall, Irrtum oder Konsequenz, Episode oder Beginn? Ist es gleichgültig für seine Philosophie oder entlarvend?

Der französische Dramatiker Michel Deutsch hat die publizistische Prominenz des Falles genutzt und eine entscheidende Phase in Heideggers Biographie dramatisiert: die Rechtfertigung seiner Nazivergangenheit im Winter 1945/46. Im letzten Jahr wurde das Stück in Grenoble uraufgeführt, und zum 100.Geburtstag wird es jetzt auch in Kassel, später in Tübingen gespielt. Nun ist Heidegger der Denker auf der Bühne. Aber Dokumentartheater ist spröde und passe. Also kommt zu den Fakten ein Schuß Fantastik und zur Detailtreue etwas Verfremdung zum Zwecke der Allgemeingültigkeit. Heidegger heißt Meister, und die Amerikaner statt der Franzosen sind Besatzungsmacht. Die schwierige Frage, wie man Philosophie auf die Bühne bringen kann, löst Michel Deutsch elegant: durch Theaterzwang. Der Philosoph wird im Theater interniert. Die Amerikaner inhaftieren Meister als prominenten Nazi und weisen ihm im zerstörten Universitätsstädtchen die Bühne eines zerbombten Theaters als Zelle zu.

Zwischen verschlissenen Theaterkulissen und Requisitengerümpel wird Lehrer Meister von seinem Schüler Lerner verhört. Lerner, emigrierter Assistent Meisters, ist nun Leutnant der US-Armee und mit der Entnazifizierung seiner früheren Universitäten befaßt. Heidegger selbst ist nie von der Besatzungsmacht verhört worden, wohl aber von einem Bereinigungsausschuß der Universität, dem antifaschistischen Professoren angehörten. In der Figur des US-Leutnants und Philosophen Lerner kombiniert Michel Deutsch Züge Klaus Manns, der tatsächlich in US-Uniform 1945 Deutschland bereiste, Herbert Marcuses, der 1946 Heidegger brieflich zu einer Stellungnahme zum Naziregime und zur Judenvernichtung aufgefordert hatte, und Werner Brocks, des jüdischen Assistenten Heideggers, der 1933 wie alle jüdischen Beamten entlassen worden war. Diese Mischung aus Fakten und Fiktion beleuchtet eine reale Merkwürdigkeit: die prominentesten frühen Schüler des Philosophen, der mit dem Nationalsozialismus liebäugelte, waren Juden und Gegner des Nationalsozialismus (Karl Löwith, Günther Anders, Hannah Arendt, Herbert Marcuse, Hans Jonas). Für den Zeithintergrund und die Konfrontation mit dem deutschen Lebenslauf der kleinen Leute sorgt neben dem Herrn Meister und dem Gesellen Lerner eine Frau Gottlieb, die gottesfürchtige Wärterin im Theatergefängnis. Dieses Trio liefert abwechselnd Monologe und Rededuelle: Meister raunt und krakeelt über seine philosophische Sendung und die elenden Haftbedingungen, Lerner bohrt nach Fakten und Rechtfertigungen, Frau Gottlieb erzählt kreuzbrav von ihrer Familie.

Michel Deutsch hat seine szenische Parabel vom Fall des Erwin Meister in Zusammenarbeit mit dem Straßburger Philosophieprofessors Philippe Lacoue-Labarthe verfaßt. Lacoue-Labarthe ist in der französischen Debatte einer der kritischen Verteidiger Heideggers. Er vertritt die Auffassung, Heideggers Engagement für den Nationalsozialismus sei kein Irrtum, sondern bewußte Konsequenz seiner damaligen philosophischen Auffassung gewesen. Damals sei er noch zu sehr dem traditionellen metaphysischen Denken verhaftet gewesen, später jedoch habe er sich sowohl vom Nationalsozialismus abgewandt als auch eine radikal anti-metaphysische Position eingenommen. Heideggers Nazitum sei weniger gravierend, weil kurzfristiger als Brechts lebenslange Treue zum Kommunismus. Versagt habe Heidegger nur darin, daß er die Apokalypse von Auschwitz nicht denkend verarbeitet habe.

Diese vorsichtige Kritik, die den Nazismus dem Heidegger von Sein und Zeit in die Schuhe schieben will, um die Spätphilosophie zu retten, liefert die philosophische Grundlage für die Meister-Figur in Sit venia verbo. Meister rechtfertigt sich gegen Lerners Angriffe mit den Ausflüchten des historischen Heidegger: Antisemitismus und biologische Rassenlehre habe er nie gebilligt. Zuletzt jedoch zieht er sich ins Schweigen zurück. Aber nicht Heideggers Schweigen ist der Skandal (und es ist auch nicht sein Verdienst, wie Jacques Derrida meint), sondern seine Äußerungen über den Nationalsozialismus sind unerträglich.

Auf Marcuses Frage nach seiner Stellungnahme zu Auschwitz verwies Heidegger auf die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten. Im 'Spiegel'-Gespräch von 1966 gesteht er dem Nationalsozialismus zu, in die richtige Richtung gegangen zu sein zur Erlangung eines „zureichenden Verhältnisses zum Wesen der Technik“. Wenn es zutrifft, daß sich Heidegger nach 1934 schrittweise eine neue kritischere Auffassung des Nationalsozialismus erarbeitet hat, dann ist diese Theorie, soweit sie heute zu erschließen ist, genauso skandalös. Denn eine Philosophie, die den Nationalsozialismus zusammen mit Amerikanismus und Kommunismus als „Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen“ versteht, hat immer noch ein katastrophales politisches Defizit. Kritik der Technik ohne Kritik der Diktatur ist zu wenig.

Der Meisterphilosoph in Sit venia verbo bringt schließlich etwas von einem „Augenblick geistigen Versagens“ über die Lippen. Heidegger hat nie ein geistiges Versagen eingestanden, nur ein „persönliches Versagen“ (im Falle seines jüdischen Lehrers Husserl) und einen korrigierten Irrtum (die Übernahme des Rektorats 1933/34). Es ist Lacoue -Labarthes Heidegger-Kritik, die Michel Deutsch hier Meister als Selbstkritik in den Mund legt. „Venia“ bedeutet „nachsichtige Erlaubnis“, sagt das Wörterbuch: Nachsicht für den tragischen Helden Heidegger und seine unsäglichen Worte, so könnte man den Titel auch verstehen. Aus der Perspektive der Heidegger-Debatte ist Sit venia verbo ( wenn man so sagen darf) ein Fall von milder Apologetik. Michel Deutschs Erwin Meister ist aber nicht Martin Heidegger, sondern eine paradigmatische Kunstfigur. Und typisch an Heidegger ist nicht sein Schweigen, sondern sein Gerede: die strategische Verschleierung seiner Nazi-Vergangenheit; nicht seine Unbelehrbarkeit, sondern seine zwiespältige Scheinbelehrbarkeit, die fatale Mischung aus Rechtfertigung, Selbstkritik, Vertuschung und Verharmlosung, die auch so viele andere akademische Karrieren dieser Zeit kennzeichnet.

Die deutsche Erstaufführung im Staatstheater Kassel (Regie: Christoph Pfeiffer) legt zu Recht den Schwerpunkt auf die zeittypische Repräsentativität. Ihr Meister (Sven-Christian Habich) hat keine äußerliche Ähnlichkeit mit seinem Vorbild; kein Schnauzbart, kein Schwäbeln. Dieser Professor sieht aus wie ein Metzger, ein trinkfester Pykniker, eher ein Gottfried Benn als ein Heidegger. Wenn er auf die Biertrinker schimpft, glaubt man ihm das kaum, und das Bergsteigen, von dem er schwärmt, kann er nur vor ziemlich langer Zeit praktiziert haben. Ein ernster Denker ist er wohl auch nicht, eher ein „monströser Faun“, wie er sich selbst nennt, oder ein trunkener Silen mit kaustischem Witz, eher der Typ Sokrates als der Typ Platon. Skurril hüpft er über die Bühne und rennt gegen unser Klischeebild vom Philosophen an. Gegen diesen kauzigen Clochard mit Schlächtervisage fallen die anderen Fiuguren ab: in Lerner (Vincent Leittersdorf) erkennt man vielleicht noch den im Kasernenhofgebrüll gedrillten Leutnant wieder, aber nicht den vielversprechenden Jungphilosophen. Und Frau Gottlieb (Heide de Vries) ist plumper und aufdringlicher, als ihre Rolle verlangt. Die Theaterkerkerhaft im Kasseler „tif“ findet ein überraschendes Ende. Auf die Nachricht von Meisters Entlassung folgt nicht wie in Michel Deutschs Text die Ansage des weiteren Schicksals der drei Figuren Meisters Rehabilitierung, Lerners Selbstmord und Frau Gottliebs Wohlstand - sondern eine stumme Szene. Meister wird von einem Chauffeur abgeholt. Die Rückwand der Bühne öffnet sich, und man blickt nach draußen auf das Straßenpflaster: Verkehrsschilder, Häuser, ein dunkler Herbstabend. Ein eleganter Fünfziger-Jahre-Mercedes fährt vor, Meister steigt ein und braust davon. Vorsicht, Meister Heidegger ist unter uns.

Gerhard Preußer