Ist der Zug abgefahren?

■ Verkehr in London: Zwischen Chaos und Beruhigung, Automatisierung und Menschlichkeit, Massenabfertigung und individuellem Service

Renate Großtat IST DER ZUG ABGEFAHREN?

Verkehr in London: Zwischen Chaos und Beruhigung, Automatisierung und Menschlichkeit, Massenabfertigung und individuellem Service

Freitagabend im Zug vom außerhalb der Stadt gelegenen Flughafen Gatwick nach London: eine Reihe vollbepackter Touristen und EngländerInnen auf der Heimreise; braungebrannte Sonnen-Urlauber, die erschöpft in den heimatlichen Polstern entspannen. Der Zug, der uns nach „London Bridge“ bringen soll, ist genauso dicht bepackt wie die Koffer auf der Plattform an den Türen.

Der im Wagen aushängende Strekkenplan macht mich mißtrauisch: Nach den ersten sechs Bahnhöfen teilt sich die Strecke, und kein Hinweis oder Schaffner verkündet, welche der beiden möglichen Routen wir nehmen werden. Sollte es sich um die nördliche Abzweigung handeln, dann führt die Strecke tatsächlich über „London Bridge“. Wenn nicht... Ich merke, wie die Engländer im Zug beginnen, diese Frage abzuwägen wie die Preise auf dem Wochenmarkt. „Hoffentlich fährt er hier lang“, sagt eine Frau, und die anderen nicken zustimmend und entwickeln im Plauderton die kühnsten Ideen für den anderen Fall: „Wenn er anderslang fährt, fahre ich bis da oben und hierlang zurück, so daß ich irgendwann da ankomme...“ Man erteilt einander Ratschläge, prüft die Pläne der anderen und hat hier und da noch einen Hinweis aus der Erfahrung einer ähnlichen Situation hinzuzufügen. Ich kann nicht umhin, mich über den sachlichen Ton zu wundern, als handele es sich um den üblichen Small talk. Doch die Frage nach einer endgültigen und wirklich kompetenten Auskunft taucht höchstens im Herzen einer Deutschen auf, die sie in dieser Umgebung jedoch nicht laut zu stellen wagt. Sie wäre ohnehin vergeblich.

Der erste Bahnhof nach dem Abzweig: „Aaaah!“ fährt ein erleichterter Seufzer durch die Reihen. „Er fährt offenbar oben lang.“ Ich bin gerettet, so scheint es, und der junge Mann, der meine Sorge um die Erreichung meines Reiseziels mitbekommen hatte, zwinkert mir zu, als wäre dies alles nur ein Gesellschaftsspiel.

Nächster Bahnhof: Zum erstenmal hören (und verstehen) wir die über Lautsprecher verzerrte Stimme eines Stationsvorstehers. Sie sagt: „Dieser Zug hält nicht in 'London Bridge‘.“ - Was nun? Die Freunde, bei denen ich übernachten wollte, erwarten mich gegen 22.30 Uhr. Jetzt ist es - wegen der Verspätung des Flugzeugs, das in Gatwick nicht landen konnte („too much aircraft“) - bereits 23 Uhr. „Fahrgäste nach 'London Bridge‘ werden gebeten, in 'Blackfriars‘ umzusteigen“, schnarrt die Stimme weiter. Na bitte - alles halb so schlimm. Ich krame schon mal in meiner Tasche nach dem U-Bahn-Fahrplan.

Wiederum am nächsten Bahnhof erscheint ein Beamter von „British Rail“ in der Wagentür. „How many passengers to 'London Bridge‘?“ fragt er und zählt alle, die den Arm heben. Vielleicht haben sie doch vor zu halten, wenn sich nur genügend Interessenten finden? Nein. Wenig später ist diese vage Hoffnung zerstört: Der Zug donnert am Bahnhof „London Bridge“ vorbei.

Ergeben konsultiere ich mein U-Bahn-Streckennetz und plane die Weiterfahrt nach „Blackfriars“. Aber Planen ist bei „British Rail“ eine beinahe überflüssige Tätigkeit. Wir rauschen an einem weiteren Bahnhof vorbei, der auf der Karte markiert ist, und halten dafür auf einem, der nirgends eingezeichnet ist. In „Blackfriars“ angekommen, besagt dort ein Schild, daß kein weiterer Zug mehr fährt. Der angrenzende U-Bahnhof ist bereits mit einer Stahlgittertür verschlossen.

Ein Taxi“, schießt es mir durch den Kopf, und ich unterdrücke fast sofort den Ärger über die zusätzliche Geldausgabe. Wieder ist eine Beratung unter den wie begossene Pudel dastehenden „London Bridge„-Passagieren vonnöten. Ungefähr zehn sind übriggeblieben. Ich bin von der freundlichen Auskunft des Zugabfertigers überrascht, daß „sie“ Taxis schicken wollen, um uns an den - anders nicht erreichbaren - Bestimmungsort zu bringen. Ob das wohl stimme, frage ich unsicher. Oh doch, antworten die anderen mir einstimmig, woraus ich entnehme, daß ihnen so etwas nicht zum erstenmal passiert. „Die Taxis kommen. Fragt sich nur wann.“

Nach endloser Zeit erscheint einer der bestellten Wagen. Ob noch andere Taxis kämen, fragen wir verständlicherweise, wenigstens eins? Der Fahrer sucht über Funk den Kontakt zu seinen Kollegen. Dann lacht er nach dem kurzen Schwatz mit fast kindlicher Freude: „Ja. Sie sind irgendwo.“

Der Rest der Geschichte ist fast nur noch erfreulich: Ich bin angekommen. Der Fahrer des Wagens setzt mich direkt vor der Haustür ab - ein von „British Rail“ bezahlter Extra -Service.

Die Klingel zerreißt einen in völlige Dunkelheit gehüllten biederen Wohnblock inmitten eines düsteren Industrieviertels. Verschlafen werde ich begrüßt, und die Entschuldigungen sprudeln von meinen Lippen. Aber: Das macht doch nichts, sagen sie alle, das haben wir gar nicht anders erwartet. Pluspunkt Flexibilität

Im englischen Verkehrswesen herrscht - verglichen mit bundesdeutschen Gewohnheiten - das Chaos. Das liegt keineswegs an der streikfreudigen Politik englischer Gewerkschaften, sondern ist offenbar schon eine Mentalitätsfrage: „Take it easy“ ist nicht einfach ein Slogan, bei dem sich zwei Leute gegenseitig auf die Schulter hauen, wenn es gar nicht mehr schlimmer kommen kann, sondern eine eingefleischte Überzeugung. Und die Gelassenheit - bis hin zur „Schlamperei“, wie wir es vielleicht nennen würden hat eine fast liebenswerte Kehrseite: Das Absehen von allzu strengen Reglements und Regelmäßigkeiten verhindert im wahrsten Sinne des Wortes eine gewisse Eingleisigkeit. An ganz überraschender Stelle erscheint dann zwischen den sich hilflos glaubenden Fahrgästen ein menschliches Wesen, zählt die Köpfe und ruft entsprechend viele Taxis. Chaos und Beruhigung, Automatisierung und Menschlichkeit, Massenabfertigung und individueller Service gehen Hand in Hand, versöhnen mit einer in der überfüllten Millionenstadt unvermeidbaren Anonymität, die an einzelnen Stellen überraschend aufbricht.

Die Gelassenheit bleibt den meisten Londonern auch dann noch erhalten, wenn es um die Streiks des Bahnpersonals geht. Ist man erst einmal an des übliche Chaos gewöhnt, macht einem das außerordentliche kaum mehr Probleme. Der mitten in der Stadt gelegene „London City Airport“ wirbt sogar damit, daß er im Streikfall mit Taxis oder mit den auf der Themse verkehrenden „Riverbus„-Schiffen erreichbar bleibt. Und tatsächlich findet das Taxi, billiger und verbreiteter als bei uns, häufig den einzigen Ausweg aus dem Schienen-Dilemma. Andersherum stellt der Gang in die unterirdischen Gefilde der U-Bahn oder auch die Benutzung von „British Rail“ häufig die einzige Möglichkeit dar, schneller als im Schrittempo voranzukommen. Die bis an die äußersten Grenzen der Belastbarkeit frequentierten Verkehrsmittel funktionieren trotz ihrer Verschiedenartigkeit letztlich nur „Hand in Hand“ miteinander.

Doch dieses Ineinandergreifen ist durch die immer ausgedehnteren Privatisierungsmaßnahmen der Thatcher -Regierung gefährdet. Die Busse unterstehen bereits zum großen Teil privaten Gesellschaften, die einen unerbittlichen Wettbewerb führen. Da ist die Gefahr groß, sich gegenseitig den Weg abzuschneiden, statt die zum Umsteigen veranlaßten Fahrgäste weiterzubringen.

Auch die U-Bahn-Linien werden von unterschiedlichen Bezirksverwaltungen unterschiedlich betrieben. So erhalten seit der Abschaffung der zentralen Stadtverwaltung Londons die Angestellten der einen Linie mehr Geld als die einer anderen - ein Umstand, der nicht unwesentlich zu den jünsten Arbeitskämpfen beigetragen hat.

Die fortschreitende Privatisierung, mit der Frau Thatcher den Staatshaushalt aufbessert, hat ihr im Bereich der Wasserversorgung bereits eine kalte Dusche von der EG eingebracht (siehe taz vom 8.8.89). Die Privatisierung erstreckt sich inzwischen auch auf die Bereiche der Gas- und Elektritzitätsversorgung, der Gefängnisse und Bewährungshilfe, auf Flughäfen und die Fluggesellschaft „British Airways“. Sie bewirkt ein intensives Bemühen um Aktionäre, das einem „Facelifting“ gleichkommt; die renovierungsbedürftigen Stellen hinter einer aufgemotzten Fassade profitieren - wenn überhaupt - als letzte. Ebenso verhält es sich in den Bereichen, in die noch staatlich investiert wird, wie etwa bei der britischen Eisenbahn. Dort wurde ein Viertel aller Mechaniker entlassen, und die Bahnhofsrestaurants wurden zu einheitlichen Cafes, die großen Hallen zu strahlenden Verkaufspassagen umgebaut. Der gemeinsame Nenner, den die Regierung für staatliche Investitionen und Privatisierungen ansetzt, ist die Pflege des Äußeren, die Verkaufsattraktivität. Kein Wunder, wenn da Sicherheits- und Arbeitsbedingungen zugunsten kommerzieller Interessen auf der Strecke bleiben. Das Geld bleibt im Lack, nach außen sichtbar, stecken. „London Underground“

„Die ungeheure Stadt wäre nicht zu bewohnen, wenn sie nicht die Untergrundbahn besäße“, schrieb der Maler Richard Seewald bereits 1945 in seinem Buch über die Stadt. Die Omnibusse sind im dichten Londoner Verkehr, zwischen Haltestellen, roten Ampeln und Staus, verloren - vom sprichwörtlichen Nebel ganz zu schweigen. Zweieinhalb Millionen Menschen befördert die Londoner U-Bahn täglich mehr als die Einwohnerzahl West-Berlins.

Als 1986 die zentrale Stadtverwaltung, das „Greater London Council“ (GLC), abgeschafft wurde, war der legendäre Londoner Autoverkehr bereits stark gesunken: Das GLC hatte eine umweltfreundliche und soziale Politik verfolgt und durch Subventionen die Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel niedrig gehalten. Gegen den großen Protest der Öffentlichkeit, ganz gegen das gewohnte englische Understatement mit „Schlacht um London“ bezeichnet, ermunterte die Thatcher-Regierung nun private Unternehmer zum Betreiben öffentlicher Verkehrsmittel und setzte zur Verwaltung der U-Bahn-Linien verschiedene politische Instanzen ein. Kommerzielle Interessen rücken so in den Vordergrund. Der Individualverkehr hat wieder Vorfahrt, für neue Betriebsmittel der U-Bahn fehlt das Geld, und das Personal arbeitet unter verschlechterten Bedingungen. So kommt es zu den neuerdings selbst von den katastrophengewohnten Einheimischen massiv beklagten Zuständen: verdreckte Züge, veraltete Gleisanlagen und unregelmäßiger oder eingeschränkter Zugverkehr. Zug der Zukunft

Die konservative Regierung befindet sich in einer Klemme. Der weitere Ausbau des Individualverkehrs schadet dem Ansehen Londons als Weltstadt: Er macht das Flanieren ungenießbar, und überdies benutzen die Touristen liebend gern die öffentlichen Verkehrsmittel. So nimmt es nicht wunder, daß „London Transport“ im vorigen Jahr ein Modernisierungsprogramm startete, das zusätzlich zu der Kachelung und Bemalung der U-Bahnhöfe (bei der einige kostbare Antiquitäten das Nachsehen hatten) auch noch den „Zug ins 21. Jahrhundert“ hervorbringen soll.

Schöner, moderner, geräumiger soll er werden, der Zug der Zukunft, um den Unmut von Touristen und Einheimischen aufzufangen. Zu diesem Zweck wurden drei neue Wagentypen getestet und das Publikum in Umfragen zu einer Stellungnahme aufgefordert. Eine regelrechte „Abstimmung“ jedoch, welchen Wagen die Öffentlichkeit bevorzugt, ließen die Behörden nicht zu; es ging ihnen lediglich um ein Meinungsbild. Oder, stellt sich fast automatisch die Frage, um die Demonstration demokratisch anmutender Maßnahmen? Die Reaktionen auf die neuen Wagentypen sind positiv; Sauberkeit und Bequemlichkeit werden von den interviewten Fahrgästen begeistert hervorgehoben.

Sauberkeit und Bequemlichkeit können allerdings zu Sterilität und zu einem sehr einsamen Luxus werden. Statt eines Zugabfertigers besitzen die neuen Bahnhöfe lediglich einen Apparat an der Wand, ein „emergency talk-back system“, und einen sich „irgendwo“ aufhaltenden Beamten - ein bißchen wenig, wenn man bedenkt, daß die Londoner U-Bahn immer wieder Schauplatz von Bedrohungen und Überfällen geworden ist.

Läßt sich nur hoffen, daß allen gegensätzlichen Stellungnahmen zum Trotz Sicherheit, Funktionstüchtigkeit und Personalbedingungen wieder in den Vordergrund gerückt sein werden, bevor ein weiterer Abschnitt des Verkehrs unter der Erde beginnt: die Inbetriebnahme des Tunnels unter dem Ärmelkanal. Ich möchte es niemandem wünschen, in der Mitte des Weges aus betriebstechnischen Gründen stehenzubleiben.