Masse und Demokratie

Vor der größten Demonstration in der DDR  ■ K O M M E N T A R E

Die Straße“ ist in der DDR zu einer politischen Kategorie geworden: Sie ist Adressat allerhöchster politbürokratischer Warnungen und Erscheinung des langgesuchten kollektiven Subjektes, des DDR-Volkes „an sich“, das es zu studieren gilt. Tatsächlich sind die Demonstrationen in ihrem Kern demonstrativ. Es sind keine agierenden Massen, die mit ihrem Auftreten noch andere Aktionen mitdenken. Es ist das Erscheinen des Volks gegen alle staatlichen Rituale von Volkseigentum und Volksrepublik. Das muß am Vorabend der gewiß größten Demonstration des Nachkriegsdeutschlands in Ost-Berlin hervorgehoben werden. Gerade die disziplinierte Selbstbeschränkung der Massen auf die Selbst-Demonstration treibt natürlich die SED vom Rücken an der Wand an die Spitze der Demonstranten zu springen. Durch die allgemeinen Aufrufe, durch die Reden von Schabowski und anderen gerät die Ostberliner Demonstration in die Grauzone eines gesamtgesellschaftlichen Rituals.

Zwei Momente beherrschten die Demonstranten bislang: das Gefühl, „wir stehen vor einer Revolution, vielleicht der ersten Revolution, die auf deutschen Boden gelingen kann“ und das Erschrecken: „Das hätte vor drei Wochen niemand glauben können.“ Die Erfolge dieser revolutionären Bewegung stehen fest: der Sturz einer Regierungsspitze und die fliegende Hast der Umorganisation der Herrschenden. Andere Erfolge: der Ausbruch aus der Angst, der kollektive Zusammenhang, der die Phantasie der Individuen befreit, der Witz, die Wachheit, das Denken in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen.

Aber es herrscht Zeitdruck. Die Massen verlieren an demonstrativer Kraft, wenn sie immer nur die Darstellung ihrer Überzahl betreiben müssen. Der Druck „der Straße“ wird abnehmen, gibt es nicht neue Institutionen, reale Machtbeteiligungen, gibt es nicht das konkrete Hier und Jetzt der Forderungen, auf die sich der Druck richtet. Jetzt noch gibt es ein Wettrennen zwischen der Macht der „Straße“ und der Reorganisation des Staatsapparates. Wenn es der SED gelingt, durch Reformbereitschaft Zeit zu schinden, ist die Gefahr groß, daß „die Straße“ zu „Kampfdemonstrationen“ für den Dialog degenerieren. Die Ostberliner Demonstration erweckt diese Besorgnis.

Vielleicht war es die letzte Leistung des demokratischen Sozialismus, daß das Volk mit einem Schlag sauer geworden ist. Daß die 40jährige Wut der Einzelnen jetzt zur Erfahrung der Mehrheit geworden ist, stimmt natürlich friedfertig. Gerade deswegen sind die Wendepolitiker gefährlich, die sich beeilen, aus den Massen eine Produktivkraft für Reformen zu machen. Es wird ihnen gelingen, wenn „die Straße“ nicht die Schuld der Verantwortlichen, die Bereicherung von oben, die Verantwortlichkeit der Unterdrücker zum Thema machen.

Klaus Hartung