NEUES VON GESTERN

■ Das Jazzfest in der Philharmonie

„Es gibt nichts Schlimmeres, als für ein Festivalpublikum zu spielen“, sagt Chet Baker im Film Let's get lost nach einem Auftritt in Montreaux. Doch auch umgekehrt: Bei Festivals hat man es als Publikum immer gleich mit ganzen Programmblöcken zu tun, bei denen einem viel mitgeliefert wird, was man sich sonst nicht unbedingt anhören würde.

Am Eröffnungsabend des diesjährigen Jazzfestes bekam man am Donnerstag zunächst den A-capella-Chor der „New York Voices“ serviert: netter, aber belangloser Cocktailjazz, nicht viel mehr als Hintergrundmusik. In die gleiche Kerbe schlagen, wenn auch penetranter, Mel Torme und George Shearing. Torme, über den Frank Sinatra gesagt haben soll, er würde gern so gut singen wie er, mimt den Conferencier, knallt einem die Songs vor, wie das wohl nur Amerikaner können. Den Beifall empfängt er mit geballten Fäusten: Thank you, Berlin.

Traditionalismus beherrscht den Ton beim diesjährigen Jazzfest. Junge Musiker spielen perfekt nach, was vor 50 Jahren als Freiheit erkämpft wurde, als man das feste Schema des Big-Band-Jazz aufbrach und begann, „frei“ zu spielen. Der 19jährige Christopher Hollyday, sicherlich ein perfekter Saxophonist, spielt Charlie Parker. Auswendig gelernte Befreiung. Jazz als Souvenier, als Andenken einer schönen Zeit.

Kaum neue Ideen auch bei Bob Stewarts „First Line Band“ und beim Flötisten Kent Jordan. Solides Handwerk, nur kein Risiko eingehen, dann ist der Applaus des biederen Teils der Jazzfangemeinde, und in der Philharmonie ist diese Spezies traditionell überrepräsentiert, sicher.

Spannend dagegen die Vokalistinnen-Schiene im Programm. Besonders die Auftritte zweier so verschiedener Sängerinnen wie Greetje Bijma und Dianne Reeves. Die Holländerin Greetje Bijma fegt den Staub von der „guten alten Zeit“ endlich von der Bühne. Sie schreckt weder davor zurück zu hauchen wie Marlene Dietrich, noch davor zu gackern wie ein Huhn. Heftig gestikulierend dirigiert sie ihre Band, wirft das goldene Jäckchen ab, trällert auf japanisch ein Lied für einen einsamen Bonsaipflanzer, verzieht das Gesicht zur Grimasse und wird flugs zur charmanten Italienerin, die einen stakkatoartigen Maschinengewehrrap hinlegt. Bei der Zugabe erscheint sie, ganz das glückliche Schulmädchen, mit einem Strauß Luftballons vor den Fernsehkameras, bis sie einen nach dem anderen lustvoll knallend zertritt.

Völlig andere Musik macht die schwarze Sängerin Dianne Reeves mit ihrem Trio. Ihre soulige Stimme erinnert an Anita Baker, wenn sie mit dunklem Timbre durch den Klassiker My Funny Valentin streift. Ihr Cousin und Produzent George Duke, einigen sicherlich noch aus den Siebzigern als Disco -Funk-Priester geläufig, steigt mit seinen Keyboards ein, und die Familie groovt im Duo. Dianne Reeves bringt dem Jazz die Seele und den Soul zurück.

Gerade solche gegensätzlichen Programmpunkte reanimieren das in die Jahre kommende Berliner Jazzfest. George Gruntz als verantwortlicher Programmgestalter sollte sich nicht darauf ausruhen, daß das Festival durch Sponsoren vorläufig als finanziell gesichert gelten kann. Ein Festival, das die Avantgarde fast völlig links liegen läßt, verliert seine Beutung nicht allein durch einen „Sparetat“, sondern durch zu wenig Mut zum Risiko.

Das parallel laufende Total Music Meeting der Berliner Free Music Produktion macht seit Jahren deutlich, daß man auch mit wenig Geldeinsatz eine hohe musikalische Rendite erzielen kann. So kann sie es sich leisten, den Pianisten Cecil Taylor an vier Abenden in den Mittelpunkt zu stellen. Die neuesten Ergebnisse dieser kontinuierlichen Zusammenarbeit der FMP mit dem Pianisten - er spielte alleine, im Trio und mit dem Quartett Corona im Quartier waren dem Jazzfestbesucher wegen der zeitlichen Überschneidungen leider nur begrenzt zugänglich. Aber auch eine Kostprobe dieser improvisierten Musik genügte, um zu merken, daß Jazz mehr ist als die Pflege von Traditionen.

Andreas Becker