Moskaus Opposition hat weder Profil noch Kopf

In der sowjetischen Hauptstadt traf sich die „Überregionale Deputiertengruppe“ / Nur flaue Antworten auf dringende Probleme / Volkstribun Boris Jelzin hat durch Skandale seine Rolle verspielt / Der Historiker Afanassjew gibt Gorbatschow nur noch einige Monate  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Daß die Perestroika „tot“ ist, wurde - entgegen anderslautenden Agenturmeldungen - an diesem Abend nicht verkündet. Die Mitglieder des Führungsgremiums der „Überregionalen Deputiertengruppe“, die am Freitag abend etwa 1.500 geladene Gäste im Moskauer „Haus der Filmschaffenden“ zu einem Informationsabend empfingen, bemühten sich um Mäßigung. Die Gruppe war im Juli gegründet worden, um oppositionell gestimmten Abgeordneten eine organisatorische Basis zu geben. Repräsentiert wurde sie an diesem Abend von Boris Jelzin, dem Historiker Jurij Affanassjew, dem Wirtschaftswissenschaftler Platon Popow und dem estnischen Akademiemitglied und Naturwissenschaftler Palm.

Der Sozialismus sowjetischer Prägung sei am Ende, man müsse das Fundament der Gesellschaft ändern. Dies stellte Jurij Afanassjew in seinem kurzen Eingangsvortrag fest. Er zieh Staatspräsident Gorbatschow ein weiteres Mal „halbherziger Maßnahmen“ und orakelte, wieviele Monate man diesem wohl noch geben könne. Sein Nachredner Popow konzentrierte sich eher auf den Obersten Sowjet. Dort habe man viel diskutiert, aber es sei zuwenig dabei herausgekommen. Er kritisierte, daß die drei wichtigen Gesetze „Über sozialistische Betriebe“, „Über das Eigentum“ und „Über Pachtverhältnisse“ noch nicht verabschiedet sind.

Was immer der Sinn dieses Abends gewesen sein mag: die Aufdeckung von Skandalen, die Vorstellung eines neuen Programms oder eine Halbzeitbilanz der zweiten Sitzungsperiode des Obersten Sowjet - nichts von alledem wurde vollzogen. Natürlich ist es ein Skandal, daß das im Juli eröffnete Bankkonto der „Überregionalen Deputiertengruppe“ von einer unbekannten höheren Macht gesperrt wurde, und daß sie bis heute noch nicht die Erlaubnis für eine eigene Zeitung bekommen hat. Ebenso weiß man von der Entlassung des Chefredakteurs der Zeitung 'Banner des Kommunismus‘ in Noginsk bei Moskau. Das Blatt hatte Texte von Jurij Afanassjew veröffentlicht. Jetzt streikt die Belegschaft für ihren Chef. Nähere Einzelheiten hätten viele der Anwesenden im Falle Boris Jelzin interessiert. Der war kürzlich naß von einer Polizeistreife bei einem Moskauer Datschenvorort aufgegriffen worden. Jelzin behauptete damals, Attentäter hätten ihn von einer nahen Moskva-Brücke gestürzt. Doch er nahm seine Behauptung zurück, als sich Indizien herausschälten, er sei lediglich Opfer eines eifersüchtigen Ehemannes gewesen.

Deutlich wurde, daß der Sieger der letzten Wahlen, Jelzin, nicht mehr die Integrationsfigur der neuen Opposition sein kann. Platon Popow verwaltet dieses Vakuum kommissarisch. Diesem ist zwar die Sprache seiner griechischen Vorfahren abhanden gekommen, nicht aber deren mediterrane Beredtsamkeit. Einigkeit - so war zu hören - herrscht bei den Mitgliedern der „Überregionalen Deputiertengruppe“ vor allem gegen das neue Wahlgesetz der Russischen Föderativen Republik, das Abstimmungen in gewissen Betrieben, sogenannten „Werktätigendepartements“, vorsieht. Deren Mitglieder sollen künftig mit zwei Stimmen wählen: einmal am Wohnort und einmal am Arbeitsplatz.

Als politische Basis erscheint der Kampf um freie, gleiche und geheime Wahlen in dem von Krisen geschüttelten Land allerdings etwas mager. Etwa 400 Deputierte aus allen Teilen der UdSSR unter einen programmatischen Hut zu bekommen, ist gewiß keine leichte Aufgabe. Wenn aber dieses Ziel nicht energisch verwirklicht wird, droht die „Überregionale Deputiertengruppe“ politisch und personell zu zerbröseln.