Kirchentag und große Koalition

Berlin (taz) - Auf der Präsidialversammlung zur Vorbereitung des Kirchentages 1991, die am Sonnabend zu Ende ging, geschah Ungewöhnliches: Die grüne Abgeordnete Antje Vollmer sprach von einem „Signal der Mutlosigkeit, der Mitte der großen Koalition“. Einen derart direkten politischen Angriff hatte es in diesem Gremium bislang noch nicht gegeben. Der Grund: Die Präsidialversammlung bestätigt jeweils für sechs Jahre per Akklamation die dreiköpfige Kirchentagsleitung. Für die anstehende Kirchentagsperiode waren Antje Vollmer, Erhard Eppler und Ernst Benda im Vorschlag. Dieser Vorschlag hätte der tatsächlichen Zusammensetzung und den Diskussionsinhalten der letzten Kirchentage entsprochen. Aber das schien der SPD-Dominanz in diesem Gremium ein zu deutlich rot-grünes Zeichen zu sein. Statt für Vollmer votierte das Präsidium, das geheim tagt und nur den Vorschlag der Präsidialversammlung zur Akklamation vorlegt, sich für Erika Riehlen. Sie ist SPD-Mitglied und hatte auf dem Berliner Kirchentag den „Markt der Möglichkeiten“ organisiert. Durch diese überraschende Wendung geriet die Kirchentagsleitung erst in Verdacht einer parteipolitischen Entscheidung für eine große Koalition, was die Grüne Vollmer zum Ärger aller dann thematisierte. Prompt wurde ihr Parteipolitik vorgeworfen. Aber die Präsidialversammlung endete gleichwohl mit selbstkritischen Einschätzungen. Antje Vollmer wurde mit der zweithöchsten Stimmenzahl ins Präsidium gewählt und Christine von Weizsäcker monierte: „Wir sind bald das letzte Gremium in Europa, das nur akklamieren kann.“

KH