Stellt euch vor, es ist Sozialismus...und keiner läuft weg / Angesichts der Flucht von 15.000 am Wochenende bleibt der Wunsch Utopie

Kaum gestattet die DDR-Regierung die problemlose Ausreise über Prag, da zieht es so viele in die goldene Stadt wie nie. Die Mehrheit aber bleibt und demonstriert: „Das Volk sind wir, geh'n solltet ihr!“ Eigentlich aber, so ein viel beklatschtes Spruchband, „war und ist eure Politik zum Davonlaufen.“

Ost-Berlin, Freitagnacht. Wenige Stunden vor der Großdemonstration brodelt die Gerüchteküche: „Die Kinder nehmen wir morgen besser nicht mit“, rät Uli, der mit einer „ganz heißen News“ nach Hause auf den Prenzlauer Berg kommt. In der Stadt sollen Flugblätter kursieren, in denen zum Sturm auf die Mauer aufgerufen wird. Eine aufgeregte Diskussion beginnt: Sicher eine Provokation von der Stasi.

Aber wenn es nun doch Leute gibt, die den Durchbruch wagen wollen? Wird dann geschossen? Vielleicht schießen ja auch die Amis von der anderen Seite zurück? Und wenn die Mauer doch fällt, die Leute durchs Brandenburger Tor ziehen? „Dann gucken wir uns den Kudamm an und trinken Kaffee im Cafe Kranzler.“

Uli will erfahren haben, daß die Reichsbahn für diesen Tag 2,7 Millionen Fahrkarten nach Berlin verkauft hat. Die Gerüchte schwirren nur so durcheinander, die Aufregung wächst. Man und frau fühlt sich hineingerissen in den Strudel der Historie. Keine Atempause, Geschichte wird gemacht. „Mensch, die ganze Welt blickt auf uns“, begeistert sich Heiner. Selbst in Indonesien, hat ihm ein Freund erzählt, macht die DDR in diesen Tagen Schlagzeilen.

„Seit Tagen komme ich kaum mehr zum Schlafen“, stöhnt Anja. Anja gehört zum Kreis der Frauen um die „Initiativgruppe Berlin“, die mit einem eigenen Flugblatt zu der Demonstration am Samstag aufgerufen haben. „Frauen in die Offensive!“ heißt es darin. Ihr feministischer Block - der erste wohl auf einer Demonstration in Ost-Berlin - ist noch klein, aber lautstark. Rund 30 Frauen ziehen mit bunten Transparenten am breiten Strom der DemonstrantInnen vorbei, bringen mit ihren Plakaten und Parolen Leben in die Masse, die sich zunächst triste wie ein Schweigemarsch die Prenzlauer Allee hinunterschiebt.

„Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd“, rufen sie und: „Ohne Frauen geht nichts mehr“. Köpfe fliegen herum, verdutzte, dann grinsende Gesichter. Zustimmendes Lachen, Klatschen. Mit ihrem Transparent „Statt staatlicher Männeronanie - Frauenanarchie. Ver-hütet euch“ drängen sich die Frauen später bei der Kundgebung frech ganz nach vorne, halten es in die Kameras. „Die erste richtige Demo in meinem Leben“, seufzt die 25jährige Kerstin zufrieden.

„Wir Frauen wollen uns in den Prozeß der sozialistischen Erneuerung einmischen, mitmischen, ummischen“, steht im Aufruf der „Initiativgruppe Berlin“, zu der sich Frauen aus verschiedenen Gruppen zusammengefunden haben. Denn die „Frauenfrage“ soll im Neuerungsprozeß „kein Randproblem“ bleiben. Sie fordern unter anderem bessere Bezahlung für frauentypische Berufe, Förderung von Frauen in Wissenschaft und Technik, Quoten in Politik und Wirtschaft, eine neue Frauenorganisation und ein Frauenministerium.

Bis es dazu kommt, muß der Druck der Frauen jedoch noch gewaltig wachsen, denn die gesamte Oppositionsbewegung zeigt bisher für Frauenpolitik kaum Interesse. Wieder einmal geht es schließlich im Moment um Wichtigeres.

Katharina Schmutz