Kumpel wollen den Chef sprechen

Der sowjetische Kohleminister Michail Schtschadow verhandelt mit streikenden Bergarbeitern im Pechora-Revier / Doch diese wollen Regierungschef Ryschkow sehen / Streikende: Es fehlt noch immer am Nötigsten / Regierung: Streik gefährdet Versorgung  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Der sowjetische Kohleminister Michail Schtschadow ist gestern zu Gesprächen mit den streikenden Bergleuten im Pechora-Revier am Polarkreis eingetroffen. Ein Sprecher des Streikkomitees sagte vor Beginn des Treffens, weder Ministerpräsident Nikolai Ryschkows Warnungen vor einer Versorgungskrise noch die Ankunft des Ministers hätten auch nur einen der rund 15.000 Streikenden zur Rückkehr an die Arbeit bewegen können. Die Kumpel wollen mit dem Ausstand die Regierung zwingen, alle nach dem großen Streik im Juli gemachten Versprechungen für eine bessere Versorgung einzulösen. Ferner sollen sie verlangt haben, direkt mit Ryschkow sprechen zu können.

Der Regierungschef hatte am Sonntag gemeint: „Die Regierung ist der Ansicht, daß die zur Zeit, besonders an der Schwelle des Winters, in der Kohleindustrie entstandene Situation in erster Linie im Petschora-Becken - die Lebensfähigkeit unseres Volkes auf unzulässige Weise gefährdet.“ Gleichzeitig versprach er, am 17.November in Moskau gemeinsam mit Repräsentanten der Arbeitskollektive zu prüfen, wieweit der Regierungserlaß Nr.608 in die Tat umgesetzt sei.

Diese Vereinbarung zwischen Regierung und Kumpels hatte im Juli dem landesweiten Streik der Bergarbeiter ein Ende gesetzt. Daß bei weitem nicht alle Punkte dieses Dokumentes verwirklicht sind, geben auch die Vertreter der Streikkomitees aus dem ukrainischen Makejewka zu.

Im Sommer führten sie die Proteste mit an; nun stellen sie sich Ministerpräsident Ryschkov mit einem Vernunftappell an alle Kollegen in der Kohleindustrie zur Seite. Sie schreiben dabei: „Wie eh und je hapert es an der Versorgung der Gruben mit unbedingt notwendigen Materialien wie Holz, Metall, Röhren, Zement und Brennstoff. In den Städten und Dörfern fehlt es an Lebensmitteln und Konsumgütern.“ Eine Reporterin der 'Komsomolskaja Prawda‘ berichtete am Freitag aus Vorkuta. Sie benannte die Gründe für den Ausbruch der hiesigen Streikwelle im Sommer: „Tatsächlich haben die Leute wegen der Verschlechterung der ohnehin schon unerträglichen Lebensbedingungen gestreikt, wegen ihrer Perspektivlosigkeit, deshalb, weil der Verlust von Kraft und Gesundheit weder moralisch noch materiell kompensiert wird, und deshalb, weil man ihre reale Arbeit mit einem Geld bezahlt, das mehr und mehr zum Mythos wird, und mit dem man sich nichteinmal ein Dach über dem Kopf kaufen kann.“

Die Journalistin erinnert an die Entstehung Vorkutas aus einer Strafkolonie: „Eine andere Vorgeschichte gibt es hier nicht... Noch heute ist die Unterteilung in Menschen, die arbeiten und in die, die sie dabei bewachen, in der Psyche der hiesigen Einwohner lebendig.“

Die Zeitung berichtet von einigen Anschlägen auf Partei und Komsomolgebäude in Vorkuta in letzter Zeit. Besonderen Ärger gegen die Zentralregierung hat hier das neue Pensions und Versorgungsgesetz erregt, das zwar die Altersbezüge der Kumpel vertragsgemäß beträchtlich erhöht, gleichzeitig aber die Finanzierung für die Mitglieder des Streikkomitees streicht.

Die Existenz der Komitees dient der Regierung als Begründung für die Ungesetzlichkeit der jüngsten Streikaufrufe. In dem neuen „Gesetz über Arbeitskonflikte“ sind sie nur für die Zeit eines aktuellen Arbeitkampfes erlaubt. Das Oberste Gericht der für Workuta zuständigen Komitees schloß sich vor einigen Tagen dieser Argumentation an und verbot die Streiks.

Dagegen haben jetzt die Kumpel vor dem Obersten Gericht der Russischen Föderativen Sowjetrepublik Einspruch eingelegt. Die Komitees müssen erlaubt sein - so argumentieren sie -, weil der Streik im Sommer nur ausgesetzt, nicht aber beendet wurde.

Daß er wiederaufgenommen wird, sei im Vertrag mit der Regierung für den Fall, daß dieser nicht erfüllt wird, eindeutig vorgesehen. Gerade dem Schutz solcher Vereinbarungen aber diene das „Gesetz über Arbeitskonflikte“.