„Hier ist man, was man hat!“

■ Sylvia R. ist Krankenschwester, 22 Jahre alt, alleinstehend und lebt seit drei Wochen in West-Berlin Eine Reportage aus dem Containerdorf Großziethener Chaussee, in dem ehemalige DDR-BürgerInnen leben

Sylvia R. ist 22 Jahre alt, gelernte Krankenschwester und hat bis vor wenigen Wochen bei ihren Eltern in Ost-Berlin gewohnt. Momentan lebt sie nahe des Übergangsheimes Großziethener Chaussee in Rudow. Nach Norden hin ist das Häusermeer der Gropiusstadt gerade noch in Sichtweite und in die andere Richtung ist - ein Steinwurf weit entfernt - die Mauer. Auf einer großen Sandfläche stehen hier braun oder orange gefärbte Blechcontainer in einem Innen- und einem Außenkarree aufgereiht. An einer offenen Tür ist ein Michael -Jackson-Poster geheftet, die eingängigen „Lambada„-Rhythmen dringen von irgendwo nach außen und einige kitschige, weiße Gartenstühle verlieren sich auf dem pfützigen Sanduntergrund. „Sieben Quadratmeter stehen bei uns den Menschen zur Verfügung“, teilt die Leiterin ein bißchen stolz mit, „vorgeschrieben sind nur vier, aber das halten wir für unmenschlich.“

Seit etwa drei Wochen nennt Sylvia R. den Container Nummer 131 ihr Zuhause. Nicht lange, wenn man bedenkt, daß die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in dieser Siedlung drei Monate beträgt, aber auch fünf oder sechs daraus werden können. „Jetzt oder nie“, dachte sie sich, als die Flucht in den Westen über Ungarn so greifbar war. „Die Stelle, an der ich durch die Donau schwimmen wollte, hatte ich mir schon ausgesucht“, erzählt sie, doch dann zog sie es doch vor, in der bundesrepublikanischen Botschaft in Prag auf ihre Ausreise zu hoffen. Als 412. gelangte sie durch das Toilettenfenster auf das Botschaftsgelände und wartete 14 Tage lang. Eine Tante erkannte sie auf westlichen Fernsehbildern und berichtete Sylvias Mutter von der Flucht. Über die Zwischenlager in Hammelsburg und der Spandauer Juliushalle kam Sylvia R. nach Rudow.

Das Hauptmotiv für ihren Entschluß, daran besteht keine Zweifel, war die fehlende Reisefreiheit, „meine Cousine aus Köln hat mir immer Karten aus Hawaii, Teneriffa oder auch Portugal geschickt, und ich hab mich gefreut wie ein Schneekönig, wenn ich mal nach vier Jahren Warten an die Ostsee durfte“, beschreibt sie ihr Eingesperrtsein. Hatte sie damals gewußt, daß eine freie Reiseregelung in Aussicht steht, wäre sie „bestimmt nicht“ gegangen. Eine Rückkehr ist ausgeschlossen - „dafür bin ich nicht 14 Tage in Prag gewesen“. Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot in Berlin beängstigen sie nicht: „Wer hier was werden will, der kann, nur, hier muß man im Gegensatz zu drüben arbeiten.“

Immerhin, eine Wohnung in SO36 hat sie in Aussicht und einige Bewerbungen als Krankenpflegerin schon abgeschickt. Viel mehr als diese Probleme stört sie die Kälte, die Isolation der Menschen hier im Westen. „Hier kannste auf der Straße liegen - das interessiert keinen“, man grüßt sich nicht, lebt aneinander vorbei, „ist sich selbst der nächste. Man hat alles, nur keine Freunde.“ Sylvia R. lebt erst kurze Zeit in Berlin, trotzdem ist sie überzeugt, daß zwischen dem Hier und dem Drüben Welten liegen. „Man ist hier, was man hat.“

Schließlich lenkt sie ein: „Naja, hier gibt's Vor- und Nachteile und drüben eben auch.“ Aber, „das gebe ich offen zu, manchmal sehne ich mich schon nach dem Kollektiv“. Angenehme Erinnerungen hat Sylvia R. an die ersten Tage im Westen, die Art, wie sie aufgenommen wurde, die Bananenstände ohne Schlangen, die überladenen Geschäfte. Daß ein „anständiges Essen mit Fleisch und Gemüse hier 18 Mark kostet“, während man in der DDR fürs gleiche Geld mit der ganzen Familie essen gehen kann und auch noch ein Bier dafür bekommt, findet sie unverständlich. Von der BVG nicht zu reden: „Drüben hat man seine zwei Ost-Groschen in den Automaten geschmissen und konnte fahren.“

Die ewige Anwesenheit von Kamerateams und Reportern besonders in der Botschaft in Prag hat „ganz schön geschlaucht - alle zwei Minuten war da jemand. Eigentlich geht es denen doch auch nur ums Geld - nicht um uns.“ Von den politischen Positionen, die die Parteien hier im Westen vertreten, weiß sie nichts. Wenn sie heute wählen sollte, sie hätte keine Ahnung, wen. Die Grünen wären „irgendwie“ ganz sympathisch, weil die sich doch für die Umwelt einsetzen, „oder“? „Bei den Wahlen hier“, erinnert sich Sylvia R., „wurden die besten Spielfilme immer von diesen Hochrechnungen unterbrochen - da haben wir dann immer umgeschaltet.“

Max Aly