Berlin ist doch nicht Dodge-City

■ CDU-Fraktion lädt Berliner Markthändler zur „Anhörung“ über „Auswirkungen des Polenmarktes“ / CDU-Chef Diepgen stellt sich an die Spitze der antipolnischen Stimmung / Zigaretten- und Zeitungshändler rufen zur Protestkundgebung auf

Über das Ziel sind sich die Anwesenden sofort einig: der „Polenmarkt“ muß verschwinden. Gastgeber Eberhard Diepgen hat Montag abend im überfüllten Sitzungssaal im Schöneberger Rathaus ein leichtes Spiel, die Geladenen zur „öffentlichen Veranstaltung über die Auswirkungen des illegalen sogenannten Polenmarktes“ - Markthändler, Vertreter der Zigaretten- und Zeitungshändler und Anwohner aus der „Polenmarkt„-Umgebung - sind zur Aktion bereit. CDU-Chef Diepgen peitscht von Beginn an ordentlich ein: „Ihre Probleme sind die Probleme der ganzen Stadt.“ Gemeinsame Positionen sollten beschrieben werden, und argumentative Unterstützung wolle man bieten, um den Markt mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu verhindern.

Dabei wird sich mit den Problemen der Anwesenden nicht lange aufgehalten, schließlich wissen alle Bescheid, so viele Gesetze würden auf dem „Polenmarkt“ gebrochen: das Seuchen- und Tierschutzgesetz, das Zollgesetz und verschiedenste Paragraphen der Gewerbeordnung, nicht einmal ein Namensschild hätten die polnischen Händler vor ihren Auslagen. „Und jeder Käufer, der den Platz verläßt, ist ein Gesetzesbrecher.“ „Leben wir hier vielleicht in Dodge -City?“, fragt einer der Händler: „Ist Berlin eine gesetzlose Stadt?“ Der „Kaufkraftabzug“ von den Wochenmärkten und aus den Markthallen sei katastrophal, die gesetzestreuen und aufrechten Händler fürchten um ihre Existenz. Die Verantwortlichen für diesen Zustand sind schnell ausgemacht, der regierende Senat habe auf ganzer Linie versagt. Innensenator Pätzold halte schützend die Hand über alles, was polnisch ist, konstatiert ein Zwischenrufer, und ein anderer fordert unter lautem Beifall: „Lummer muß her!“ Auf ganz andere Fährte lockt ein Aufgebrachter: „Ist Herr Momper ein Pole?“, und Diepgen ist um eine Antwort nicht verlegen: „Das ist eine Definitionsfrage.“

Auch die Situation der Polen, die massenhaft zum Handeln in die Stadt kommen, interessiert nur am Rande, wenige Revolvergeschichten werden zum Besten gegeben, um die Gesinnungslage der Fremden zu dokumentieren. Mangelware aus dem eigenen Land würde hier verhökert, in Polen seien die Berlin-Besucher gar nicht wohl gelitten. Inzwischen würden sie hier in der Stadt ihre Handelsware überall zusammenklauen. Um der Zollfahndung zu entgehen, würden die „gerissenen Schieber“ derweil ihre Ware in der DDR in West -Pkws umladen und damit unkontrolliert die Grenze wechseln.

„Sie sind zu milde mit dem Staat“, souverän-paternalistisch rügt Diepgen sein Publikum und läutet die Debatte um die anstehenden Aktionen ein: „Was sollen wir machen?“ Eine Unterschriftensammlung wird erwogen und die Möglichkeit eines Volksbegehrens ebenso geprüft wie die Aufhebung der Immunität verantwortlicher Politiker, um sie strafrechtlich zu belangen. Der Ex-Regiermeister und seine Parteikollegen Buwitt und Lehmann-Brauns („Sie müssen den Momper mal besuchen“, sekundiert der aus zweiter Reihe) verteilen juristische Ratschläge und bieten parlamentarische Unterstützung an.

Ein Vertreter des Landesverbandes des Zeitungs- und Zeitschriftenhandels ist zusammen mit dem Verband der Berliner Tabakwaren-Einzelhändler schon aktiv geworden: Für kommenden Samstag rufen sie zu einer Protest-Kundgebung vor dem Reichstag auf. „Wir dürfen nicht länger hinnehmen, daß der Senat den illegalen Schwarzmarkt duldet und uns Händler kaputt macht“, heißt es auf dem Plakat, daß die Runde macht mit der Aufforderung, die Anwesenden mögen den Aufruf an ihren Ständen aushängen. Jetzt müsse das Volk auf die Straße gehen, genau wie momentan im Ostteil der Stadt, und schließlich hätte schon die Studentenbewegung 1968 die Macht der Straße bewiesen. Doch die Händler zögern noch: der geplante Zeitpunkt Samstag mittag um 14 Uhr sei zu früh, schließlich könne man die eigenen Marktbuden am Wochenende so früh nicht schließen, um an der Kundgebung teilzunehmen. Auch hier wird Diepgen als Koordinator aktiv und sorgt dafür, daß der Beginn der Veranstaltung um eine Stunde nach hinten verschoben wird.

Doch kündigt Diepgen selbst an, im Abgeordnetenhaus und in Bonn aktiv zu werden. Die Bonner Regierung solle in Polen darauf dringen, daß künftig weniger polnische Reisende nach Berlin kommen könnten. Denkbar sei die Formulierung einer Berlin-Klausel, die mit der bisherigen visumfreien Einreise Schluß mache. Gegen diesen Vorschlag zur Einschränkung der Reisefreiheit für Polen von westlicher Seite hat sich inzwischen der Senat gewandt: „Es ist zu befürchten, daß die CDU ähnliche Forderungen auch gegen DDR-Bürger erheben wird, wenn es dort Reisefreiheit gibt und viele zu uns kommen“, beantwortet gestern Senatssprecher Kolhoff die Diepgen -Offensive.

Elmar Kraushaar