Der Blick aufs „Auge Kamera“

■ „Abenteuer Wirklichkeit“ - Eine anspruchsvolle Dokumentarfilmreihe in der Berliner Akademie der Künste

Konzipiert wurde das Unternehmen von Kraft Wetzel, die Realisation erfolgte durch die Abteilung Medien- und Filmkunst der Akademie in Zusammenarbeit mit 3sat, dem Kulturkanal des ZDF. Die Veranstalter hatten das dringende Anliegen, den derzeitig gängigen Fastfood -Nachrichtensendungen paroli zu bieten und eine alternative Form der Realitätsvermittlung vorzustellen. In einer Werkschau mit begleitenden Vorträgen wurden drei hochkarätige Vertreter des deutschen Dokumentarfilms porträtiert: Klaus Wildenhahn (ARD), Hans-Dieter Grabe (ZDF) und Jürgen Böttcher (Defa).

„Alle drei hier vorzustellenden Filmemacher sind in den dreißiger Jahren geboren. Sie gehören damit jener Generation an, die - und sei es auch nur als Kind - das 'Dritte Reich‘ noch bewußt erlebten. Es mag auf diese biographische Gemeinsamkeit zurückzuführen sein, daß alle drei nicht anfällig sind für Ideologie. Sie sind sicher im weitesten Sinne des Wortes 'links‘: Böttcher hat in der DDR immer wieder Arbeiter und Arbeiterinnen porträtiert, Grabe hat mit seinen Vietnamfilmen zur Schärfung des Bewußtseins gegenüber dem Krieg in der Bundesrepublik beigetragen, Wildenhahn immer wieder Streiks dargestellt - aber alle drei haben sich niemals vereinnahmen lassen, haben immer wieder quer gedacht, unbequeme Fragen gestellt, in jede Richtung. So sind sie, obwohl Vorbild für manche, Einzelgänger, mehr geduldet als gefördert in den Mediensystemen Ost und West.“ So stellt Wilhelm Roth die Regisseure in der Einleitung des Veranstaltungskatalogs vor.

Eine ethische Gemeinsamkeit verbindet sie: In allen Filmprojekten verfolgen sie das Menschliche und Individuelle an einem kollektiven Zustand; unter ihrer Regie spürt die Kamera, das „Auge Fernsehen“, den beobachteten Personen hinterher, folgt ihnen mit einer positiven Neugier, voller Sympathie und Anteilnahme - aber nie voyeuristisch. Dabei wird die Seh- und Empfindungsfähigkeit beim Zuschauer nicht durch belehrende und einengende Kommentare gestört. Jürgen Böttchers Leistung besteht darin, als Angestellter der Defa peu a peu die obligatorischen Informationsdiktate aus seinen Filmen verbannt zu haben. Dem Wort glaube sowieso keiner mehr in der DDR, kommentierte er selbst diese Tendenz.

Den Dokumentaristen kommt es auf die Darstellung der räumlichen Situation, des sozialen Hintergrundes der Porträtierten an: Die sollen und dürfen für sich sprechen. Man läßt ihnen genügend Zeit.

Bei allem, was die drei verbindet, verblüffen die formalen Unterschiede ihrer Filme; so wird ein Leitmotiv der Veranstaltungsreihe veranschaulicht: Nichts ist objektiver als Subjektivität.

Hans-Dieter Grabe interessiert sich für Menschen in extremen Situationen. Er drängt sie nie zum Reden. Auf diese Weise lösen sich verdrängte Erfahrungen aus dem Gedächtnis der Befragten, und wir erhalten einen tiefen Einblick in die psychischen Qualen des KZ-Opfers Schainfeld (Mendel Schainfelds zweite Reise nach Deutschland, 1972) oder die Empfindungen der Atombombenopfer in Hiroschima und Nagasaki (1985). Wir geraten so ins Mitdenken durch Mitleiden.

Jürgen Böttchers Filme lassen uns in volkseigene Betriebe im anderen Deutschland blicken: So in Die Wäscherinnen (1972), Der Rangierer (1984) und Die Küche (1986). Bereits die Arbeitschronologie hat Dokumentarisches an sich: Über die Zeitspanne von 1972 bis 1986 läßt sich das Verschwinden einer lachenden Unbefangeheit in den Gesichtern der „Darsteller“ verfolgen. Statt dessen bestimmen Frustration und Autoritätsmüdigkeit ihren mimischen Ausdruck. Ein treffender Kommentar aus dem Publikum hierzu: „Ja, 1986 ist eben näher dran an den derzeitigen Ereignissen. Da hatten die Leute den Kanal schon voll. Bei uns in der DDR findet zur Zeit das Abenteuer Wirklichkeit statt!“ Mit diesem Einwurf traf der Redner eine andere Sache genau: Die unbeabsichtigte Aktualität dieser Veranstaltungsreihe, die in ihrer „Besetzung“ merkwürdig auf den derzeitigen Schwebezustand der zwei Deutschlands hinwies: Hier traf der „ehemalige“ DDR-Bürger Grabe mit dem Kollegen Böttcher aus Ost-Berlin und Wildenhahn aus der BRD zusammen.

Böttcher ist ein emotionaler und spontaner Mensch, er glaubt dem Bild mehr als den Worten. Kein Wunder, kommt er doch eigentlich von der Malerei. Die Abwendung vom vorherrschenden Kunstbegriff bescherte ihm in den sechziger Jahren den Ausschluß aus dem Künstlerverband. So ist er unfreiwillig zu den bewegten Bildern übergewechselt. Und heute zeigt er immer noch lieber das, was ihn selbst angerührt hat, als es zu sagen.

Klaus Wildenhahn sieht die wirkliche Könnerschaft des Filmemachers in der Kunst des Schweigens, des Offenlassens gewisser Fragen und Situationen: „Vielleicht ist das der äußerste kleine Schritt, den wir im Dokumentarfilm tun können über das Herstellen jener gelassenen Szenen hinaus: das Schweigen und die in ihm enthaltene Freiheitsgrenze oder Schamgrenze unserer Darsteller deutlich zu machen, und sei es nur für buchstäbliche Sekunden.“ So der Regisseur in einem Selbstzeugnis. Offenheit zeigt sich auch im Umgang mit dem Thema: Ein Blick ins „Off“ muß immer drin sein, sei es die Straßenansicht vor dem Übungsraum der Cunnigham-Truppe (498, Third Avenue, 1967) oder der Gang zu Frau Grün, einem Opfer von Akkordarbeit, im Film Was tun Pina Bauscha und ihre Tänzer in Wuppertal?, 1982.

Zum Ende der Veranstaltungsreihe wurde die „Ethik des Dokumentarischen“ diskutiert. Da war plötzlich oft von der „Erotik des Films“ die Rede - ein wenig zu oft vielleicht, denn die Filme überzeugten auch ohne solche sprachlichen Krücken. Auch die Risiken und die Verantwortung im Umgang mit Menschen vor der Kamera und vor dem Bildschirm wurden problematisiert, aber am besten konnten die Filme selbst ihre Ethik darstellen. Das spricht für die Dokumentaristen und ihr Genre!

Für alle, die das lohnende Festival verpaßt haben, zeigt 3sat in den nächsten Wochen jeweils sonntags und mittwochs um 19.30 bzw. 20.30 Uhr Dokumentarfilme von Hans-Dieter Grabe und Klaus Wildenhahn.

Gaby Hartel