Freiheit, die wir meinen

■ Die Kluft zwischen Dableibern und Ausreisern wird größer

Es scheint paradox: Je rasanter sich der revolutionäre Veränderungsprozeß in der DDR entwickelt, um so höher schwillt die Welle derjenigen, die ihrem Land für immer den Rücken kehren. Dabei scheint der Punkt längst überschritten, bis zu dem sich die Massenausreise aus der berechtigten Furcht speisen konnte, die Umkrempelung der Verhältnisse könnte noch einmal gestoppt und zurückgedreht werden.

So sehr die Menschen in der DDR im Mißtrauen gegenüber den Unterdrückern von gestern und Wendepolitikern von heute übereinstimmen, so tief gespalten sind sie offenbar über die Substanz dessen, was ihnen in den vergangenen vierzig Jahren vorenthalten wurde: „die Freiheit“. Hunderttausende, die beinahe täglich die Straßen der Städte in der DDR bevölkern, repräsentieren das mächtigste Volk, das es auf deutschem Boden je gegeben hat. Unübersehbar sind sie sich dieser Tatsache lustvoll bewußt. Die Insel regungsloser Langeweile mutiert von heute auf morgen zum spannenden Experimentierfeld für Demokratie. Sie üben Freiheit.

Mit jedem Tag, der die DDR einem - sagen wir - freiheitlich -sozialistischen System näherbringt, wird die Kluft der Demonstranten zu denen größer, die im Trabi-Stau an der tschechisch-bundesdeutschen Grenze der Freiheit entgegenfiebern, die sie meinen.

Gemeinsam ist Dableibern wie Ausreisern das Wissen, daß der über Jahrzehnte angestaute und deshalb sehr verständliche Nachholbedarf bei den materiellen Annehmlichkeiten des Lebens auch in einer gewendeten DDR nicht über Nacht befriedigt werden kann. Uns steht ein Urteil darüber nicht zu, daß die materielle Ungeduld, die Lust auf Konsum bei so vielen größer ist als die Lust am demokratischen Aufbruch. Aber der Zeitpunkt ist überschritten, bis zu dem die Ausreisewelle als Katalysator für den demokratischen Umbruch in der DDR umjubelt werden durfte. Jeder Trabi, der die Grenze jetzt passiert, verschärft die Auszehrung des Landes. Die Chancen, daß dem demokratischen ein materieller Aufschwung folgt, schwinden.

Politiker hierzulande sollten endlich aufhören, die jubelnden Ankömmlinge mit Tränen der Rührung in „der Freiheit“ zu begrüßen. Für die sind sie drüben wichtiger als in bayerischen Turnhallen.

Gerd Rosenkranz