Oktoberrevolution auf kleiner Flamme

Sowjetische Führung vermied aufwendige Staffage zum 72. Jahrestag / Militärparade: „Nehmen Sie es als eine fröhliche Show der jungen Soldaten“ / Seit 72 Jahren erste genehmigte Gegendemonstration / Geschäfte auch vor Feiertagen ohne sonst übliche Sonderangebote  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

„Uns ist nicht nach Feiertagen zumute. Und nicht nach Paraden. Aber es gibt Daten, die tiefes Nachdenken und ein nüchternes Sicherinnern erfordern“, schreibt die Zeitung 'Moskovskij Komsomoljez‘ in ihrem Leitartikel zum Jahrestag der Revolution. Die Moskauer können sich an keinen 7. November erinnern, an dem so wenig Aufwand getrieben worden wäre. Einige rote Fahnen im Zentrum, bunte Wimpel an den Ausfallstraßen und Glühbirnen über den Moskwabrücken, darin erschöpft sich der ganze Schmuck. Von den Sonderangeboten anderer Jahre war diesmal in den Geschäften vor den immerhin vier Feiertagen kaum etwas zu merken. Man wollte augenscheinlich wegen der wirtschaftlichen Misere des Landes jegliches Auftrumpfen aus Repräsentationszwecken vermeiden: „Betrachten Sie dies nicht als Demonstration unserer Macht“, bat der Fernsehkommentator zu Beginn der traditionellen Militärparade die Journalisten, „sondern nehmen Sie es einfach als eine fröhliche Show der jungen Soldaten.“ Anschließend flanierten die Angehörigen einiger Moskauer Großbetriebe locker über den Platz, hin und wieder gab es kleine, in Kindermanier bemalte Plakate: „Bei uns in Moskau gibt es keinen Extremismus zwischen den Nationalitäten.“ Die Mammuttransparente vergangener Tage sind fast ganz aus dem Stadtbild verschwunden. „Die Perestroika ist die Fortsetzung der großen Sache des Oktober“ liest man im Zentrum, und am Historischen Museum auf dem Roten Platz prangen die historischen Losungen: „Alle Macht den Sowjets, die Erde den Bauern, die Fabriken den Arbeitern und dem Volk Frieden.“ Das Plakat ist bewußt im bäuerlichen Stil seiner Vorbilder aus den Bürgerkriegsjahren gehalten. Die Auseinandersetzung mit der Revolutionsperiode und den 20er Jahren wurde in der letzten Woche in der sowjetischen Presse gründlicher geführt als je zuvor. Die Reformillustrierte 'Ogonjok‘ machte ihre Leser mit Forschungsarbeiten des Marx-Engels-Instituts bekannt, wo gegenwärtig Photographien restauriert werden: Da tauchen plötzlich die von Stalin ermordeten Altbolschewiki wieder auf, und ins Zentrum der Bilder und Begleittexte rückt neben Lenin die Gestalt Leo Trozkis.

„72 Jahre unterwegs und dann ein großes Fragezeichen“ dies war eine der Alternativlosungen, mit denen sich zum ersten Mal in der Geschichte eine große Antidemonstration zur Parade auf dem Roten Platz formierte. Nach den Angaben der Veranstalter waren es zuletzt 55.000 Menschen, die vom Sportstadion Dynamo bis zum olympischen Komplex an der Leningradskoje Chaussee zogen. Organisiert hatten die Kundgebung Wählerklubs der verschiedenen Moskauer Bezirke, denen in den vergangenen Tagen massive Drohungen zugegangen waren. Sie reichten von einem entschiedenen Eingreifen der Behörden bis zur handgreiflichen Beteiligung russisch -vaterländisch gesinnter Organisationen wie „Vereinte Front der Werktätigen“. Tatsächlich verlief die Demonstration auf der genehmigten Route friedlich, die bunt zusammengewürfelte Menge der Teilnehmer schwoll stark an. Mit dabei waren Vertreter der „Russischen Volksfront“ und der „Moskauer Volksfront“, Mitglieder der Gesellschaft „Memorial“, die relativ radikale „Demokratische Union“ und sogar ein Häuflein Anarchosyndikalisten.