Immer mehr Polen beantragen die Übersiedlung in die DDR

Warschau (taz) - „Und wenn die Deutschen sich wiedervereinigen“, meint der Mann in der Schlange, „dann hab ich sowieso die deutsche Staatsbürgerschaft.“ Die Schlange, in die er sich eingereiht hat, besteht aus rund 100 Polen, die sich alle vor dem DDR-Konsulat in Stettin eingefunden haben, um einen Übersiedlungsantrag in die DDR zu stellen. An zwei Tagen in der Woche werden sie von den Angestellten des Konsulats eingelassen, dann erhalten sie Formulare zum Ausfüllen: einen Einreiseantrag und einen „Antrag auf Übersiedlung auf Dauer für Bürger sozialistischer Staaten“. Die werden dann eingesammelt und bearbeitet. Informationen werden keine erteilt, die Leute aus der Schlange wissen nicht, ob sie einen polnischen Konsularpaß oder einen DDR -Paß bekommen, wo sie wohnen und wo arbeiten werden. „Ich weiß nicht, wie es in der DDR ist“, meint ein junger Arbeiter aus der Schlange, „aber ich weiß, wie es in Polen ist, und das reicht mir.“ Eine schwangere Frau weiß schon, daß sie eine Wohnung bekommen wird, die ein DDR-Flüchtling hinterlassen hat - mit der gesamten Einrichtung: „Ich interessiere mich nicht für Politik“, meint sie lapidar. Aus ähnlichen Gründen haben sich auch schon Polen im Ausland bei südafrikanischen Konsulaten erkundigt, ob sie denn am Kap willkommen seien. Die Schlange vor dem Stettiner Konsulat wurde aber erst größer, als in Polen die Zahl von rund 50.000 Flüchtlingen bekannt wurde und die Tatsache, daß in der DDR ganze Ladenzeilen und Schulen schließen müssen wegen Personalmangels. Die Rechnung ist einfach: Der Lebensstandard in der DDR ist höher, mit einem polnischen Paß kann man überall hin reisen, auch aus der DDR, und selbst wenn man einen DDR-Paß bekommt, kann man damit jederzeit die BRD-Staatsbürgerschaft beantragen. Einem polnischen Journalisten verriet ein DDR -Botschaftsangestellter, seit August hätten sich „einige Hundert“ Polen um Übersiedlung in die DDR bemüht.

Klaus Bachmann