Liebe macht blind

■ Cavallis „L'Egisto“ an der Berliner Kammeroper

Premierenfieber. Nach wenigen Takten schon stellt sich die gute Laune ein. Das kleine alte Theater knistert vor Vergnügen vom Parkett bis hinauf in die Logen: Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht - Aurora regt ihre Schwingen im weißgoldenen Gegenlicht und sie singt dazu ein göttliches Arioso-Rezitativ des Maestro Francesco Cavalli. So betörend lupenrein, daß den Leuten ganz anders wird. Man weiß nicht recht, ob man lieber lachen oder weinen will. Also wird erst mal heftig applaudiert. Der Abend ist im Handstreich gewonnen.

Und zwar nicht im Teatro S. Cassiano in Vendig, nicht im Carneval Anno 1643, sondern an einem trüben Novembersamstag im Hebbeltheater in Kreuzberg. Es singt keine sturmerprobte Primadonna, sondern die junge Studentin und Stipendiatin Silvia Weiss, es spielen keine Cremonenser Geigen, nur das Orchester der Berliner Kammeroper, und der Kapellmeister, der da so souverän den Taktstock schwingt, ist bloß der bewährte Brynmor Llewelyn Jones. Er besorgt seit Gründung der BKO die musikalische Leitung des Unternehmens und hat in hohem Maße dazu beigetragen, daß die Truppe schnell zum Geheimtip geworden ist. Jedenfalls bei jenen Freunden der Operei, die nicht scharf sind auf den Schunkeleffekt bei der 127. Inszenierung der Boheme nach dem Motto: Erkennen Sie die Melodie? - sondern mit Herrn Henscheid irgendwie der Meinung sind, daß Oper das Richtige im falschen Leben ist.

Vor vier Jahren hatte die Truppe den Giasone Francesco Cavallis wiederbelebt, jetzt hat sie eine zweite Oper des berühmten venetianischen Komponisten ausgegraben, der zwar einen festen Platz im Lexikon hat, aber keinen im Repertoire. L'Egisto ist, anders als der Giasone, eine reine Solistenoper, doch wie dort, geht es in der Musik Ton für Ton um den genauen Spiegel der diversen menschlichen Gemütslagen und Leidenschaften. Gewiß ist der Stoff, wie es sich für eine Renaissance-Oper gehört, antik. Aber das Stück erzählt nicht die tragische Geschichte vom posttrojanischen Gattenmord (Äghistos und Klythämnestra erschlagen Agamemnon), sondern nur von Liebe. Die Liebe, die Liebe, nichts weiter. Eine Story so bitter und süß wie von da Ponte: zwei Pärchen verknallt überkreuz und überquer, dazu eine intrigante alte Tante und ein unglücklicher Geck. Verwicklungen, Verwechslungen, Lügen und dumme Zufälle, ganz wie im richtigen Leben, giftgrüne Eifersucht, glühende Rachegelüste und blanker Wahnsinn - und dazwischen mischen sich immerzu die Götter ein, die es freilich auch nicht besser wissen.

Ein handliches Happy-end bringt die Sache dann wieder ins Lot, dergestalt daß sie jederzeit noch einmal von vorne losgehen könnte. So machen es alle. Aber wie macht man aus solch einem stinkgewöhnlichen und überdies mit dem Staub der Jahrhunderte bedeckten Schinken ein aktuelles Theaterstück für Leute von heute? Bei Cavalli reicht es fast aus, wenn man sich mutig der Musik in die Arme wirft. Das Lamento mit dem absteigenden Baßostinato ist, so alt wie wirksam, sowieso eine Art Archetypus. Viele harmonische Seitensprünge klingen erstaunlich frisch und manche melodischen Bögen wie von Verdi. Anders geht es mit dem Kummer, der „Egistos Seeee -he-he-he- ele quält“ und mit den „Küü- hü-hü-hü- ssen“: die manirierte musikalische Verzierungspraxis des 17. Jahrhunderts paßt nicht mehr in den Sprachgebrauch der Moderne - und doch kann sie, ausgekostet und ernst genommen, plötzlich zu einer ironischen Pointe werden, die mitten ins Herz trifft.

Richtig plaziert, ist jeder Affekt so zeitlos falsch, daß er wieder echt wirkt. Io t'amo, io moro, amore, amaro, amaretto. Manchmal genügt ein Kalauer oder ein vertauschter Buchstabe, um Bitterkeit in Liebe zu verwandeln. Banalitäten - nur muß man wissen, welche, wann und wo. Dem Ensemble der Kammeroper ist das Kunststück geglückt: jede Kleinigkeit in der Personenführung, in Maske, Kostüm und Requisite paßt, wackelt und läßt noch Luft genug für heimliche Liebschaften. Das Bühnenbild (Folker Ansorge) bleibt trotz reichlich barockem Gebrauch von Versenkung, Schnürboden und Drehbühne kühl und lakonisch. Natürlich protzt Frau Venus in purpurnem Sammet und Apollo kommt ex machina, doch die Menschen agieren im transparenten Plastekäfig mit gesprühten Graffiti und kriegen voneinander nicht einmal das Nötigste mit. Lumpen und Volants, üppig aufspringende Falten und schmutzige Hosenbeine - die große Staatstheatergeste und die kleine Kurfürstendammkomödie locker aus dem Ärmel geschüttelt.

Die Sängerdarsteller halten allesamt hohes Niveau, manche liegen ein bißchen drunter, Karin Kunde als alte Amme herausragend drüber. Die Regie (Henry Akina) nimmt die Musik beim Wort. Nimmt aber auch das Publikum mit auf eine zeitlose Zeitreise durch die Welt des Luxus und der Moden und beiläufig quer durch die Operngeschichte, mit dezenten Zitaten vom Orfeo bis zur Götterdämmerung. Am Ende siegt, wie gesagt, die Liebe: Gott Amor führe uns an - nicht klassisch mit Pfeil und Bogen, sondern, ganz up to date, mit Hut, Stock und Blindenbrille. Als der Vorhang fällt, bricht ein fanatismo los, daß das Hebbeltheater fast aus den Fugen geht. Cavalli hätte das gewiß auch gut gefallen.

Elisabeth Eleonore Bauer

Es finden nur noch fünf Aufführungen statt: heute sowie am Freitag, Sonntag, Montag und Dienstag jeweils um 19.30. Karten unter der Nummer 030/251 01 44