Mit dem Rücken nach vorn

■ Die sowjetischen Filmemacher Nikolaj Dostal, Pavel Tschuchraj und Boris Tokarev über die Krise des Films in der Glasnost

„Wir sind wie Menschen, die man lange tief unter Wasser gepreßt hielt - und plötzlich werden wir losgelassen. Wir tauchen auf, aber es geht uns wie Tauchern, die zu schnell zur Oberfläche steigen. Schwindel überkommt uns.“ In diesem Taumel sieht der 1946 geborene sowjetische Regisseur Nikolaj Dostal die Filmschaffenden in der Sowjetunion. Dostal und seine fast gleichaltrigen Kollegen Boris Tokarev und Pavel Tschuchraj waren sich bei der Woche des Sowjetischen Films in Mainz einig: Die „Freiheit des Wortes“, wie Tschuchraj Glasnost nennt, brachte den sowjetischen Film in eine Krise. Ein Regisseur in der Sowjetunion, so Pavel Tschuchraj, gleicht gegenwärtig einem Tiger, eingesperrt in einem Käfig, dessen Tür bereits offensteht. Nur: Der Tiger hat den Weg ins Freie noch nicht gefunden. „Für uns ist das schizophren. Die Zensur sitzt in uns. Jeden Tag. Wir haben weit mehr Ideen und Pläne, als wir derzeit umsetzen“, bilanziert der Filmemacher; er ist der Sohn des berühmten sowjetischen Regisseurs Grigorij Tschuchraj.

Diese innere Zensur ist indes den Zensoren draußen nicht genug. Aus Tschuchrajs Film Käfig für Kanarienvögel wurden zehn Minuten herausgeschnitten: Momentaufnahmen von Alkoholikern, Stadtstreichern und dem regen Innenleben von Moskauer Toiletten. Noch immer haben in den Filmausschüssen einige Betonschiks der Ära Stalin das Sagen. Sie opfern die Realität dem sozialistischen Realismus, sähen lieber Filme im Kino, die der Partei dienten; Filme, in denen es noch strahlende Helden der Arbeiterklasse gibt. Doch diese Helden sind tot - falls es sie überhaupt je gegeben hatte. Und auf ihren Gräbern feiert die Wahrhaftigkeit ihren Triumph. Vor allem in der Literatur. Schriftsteller der „neuen Welle“, wie Rozov, Galin und Ljudmila Petruschevskaja, brachten wahrhaftige Menschen aufs Papier und auf die Bühnen. Sie zeigen den sowjetischen Alltag - ungeschminkt. Doch der Film hinkt hinterher. „Es gibt zu wenige gute Drehbücher“, bemängelt Tschuchraj. Er griff nur widerwillig auf Bühnenstücke zurück, die ihm zu „dialoglastig“ sind. Zum Mangel an Textmaterial gesellt sich ein noch ärgeres Problem: „Unser Leben verändert sich so schnell. Ein Film, den man eben noch dreht, ist einen Monat später schon veraltet.“

In der Tat: Pavel Tschuchraj und Boris Tokarev (Film: Zoff bei Nacht) würden beispielsweise das Thema „Jugendliche“ heute ganz anders anpacken als noch vor zwei Jahren. Tokarev: „Heute würden meine Jugendlichen nicht mehr nur ein Taxi klauen - das wäre ja ein Kinderspiel. Nein, heute würden sie mit Schußwaffen durch die Straßen Moskaus ziehen. Der Konflikt zwischen Erwachsenen und Jugendlichen hat sich zugespitzt. Die Kinder sind noch größere Opfer unserer Gesellschaft geworden. Nur 17 Minuten täglich widmen sich Eltern ihrem Nachwuchs. So wird man zum Verbrecher. Mein Film wäre heute härter, ohne Ruhe, ohne alles Verharmlosende.“

Doch lassen die staatlichen Studios so etwas zu? Nikolaj Dostal, der sich in Schura und Proswirnjak mit dem „alltäglichen Stalinismus“ der Sowjetbürger befaßt, meint, heute sei sogar ein wahrheitsgetreuer Film über die Korruption des Breschnew-Clans zu verwirklichen - auch in staatlichen Studios. Inzwischen bröckelt jedoch das Monopol staatlicher Filmfabriken. Es bilden sich unabhängige Kooperativen mit kleinen Studios, wie Boris Tokarev berichtet. Die Gruppen erhalten einen Kredit vom Staat. Oder sie finden Geldgeber im Ausland, in Italien etwa. Auch die Amerikaner tun sich hervor - in der Amerikanisch -Sowjetischen Kooperative (ASK). Tokarev: „Das Drehbuch gehört uns; die Amerikaner interessieren sich nur für Verleih und Vertriebsrechte.“ Gerade im Zusammenhang mit Verleih und Vertrieb gelingt es hartgesottenen Apparatschiks immer wieder, den Künstlern Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Das geschieht ohne Aufsehen: Von Dostals Film über den Stalinismus wurden einfach nur 300 Kopien angefertigt. Auf der Exportliste erscheint der Titel erst gar nicht. Dostal sagt: „Es hieß, der Titel sei nichtssagend. Der Film sei kein Publikumsschlager.“ Wie sollte er es werden können

-mit nur 300 Kopien? Zum Vergleich: Die Filme des Alt -Regisseurs Eldar Rjasanow (geboren 1927) werden mit bis zu 1.200 Kopien in Umlauf gebracht.

Dazu kommt, daß die Filme, die auch von der Sprache, vom russischen Originalton leben, bisher nur mangelhaft untertitelt sind. Historisch heikle Stellen werden übergangen, die Dialoge nur grob übersetzt. Die Regisseure können die Untertitel nicht einmal mehr überprüfen, wie Dostal bedauert. Auf die Frage, worin er die Ursache der trotz aller Schikanen - zunehmenden Freiheit der Kultur sehe, gibt Dostal eine ernüchternde Antwort: „Gorbatschow hat derzeit anderes im Sinn, als an Kultur zu denken. Er muß dem Menschen Mantel und Wurst geben. Solange das anhält, sind wir ihm egal, können wir machen, was wir wollen.“ Boris Tokarev: „Wir gehen derzeit mit dem Rücken nach vorn und blicken zurück auf unsere Vergangenheit.“ Er meint Stalin und die Stagnation des Staates unter Breschnew. Das alles müsse erst einmal verarbeitet werden. „Die Zukunft erscheint mir alles andere als rosig. Die Situation wird sich in den nächsten Jahren noch verschärfen.“

Aufgrund der düsteren Stimmung plant Pavel Tschuchraj als nächstes eine Komödie: Ein US-Soldat, der in der UdSSR verlorengeht und den Weg zurückfinden muß. Dabei stellt er fest: Nichts von dem, was man ihm in den USA über die Russen eingetrichtert hatte, trifft zu. Ein Film gegen Feindbilder also. Schön und gut. Doch Schuchrajs Schlußworte überraschen: „Sie erinnern sich an die Antike: Dort blühte die Komödie immer dann, wenn es mit der Politik bergab ging. Oder wenn das System schon zugrunde gegangen war...“

Joachim Weidemann