Werkschau des Alltags

■ Kinoskop - Kurzfilme aus sozialistischen Ländern reisen durch die Republik

Kinoskop. Nicht Mikroskop für das ganz Kleine, nicht Teleskop für ganz weit weg, sondern kinomatographisches Belichten des - sozialistischen - Alltags. Mittels Kurzfilm. Soweit Titel und Zielsetzung des Kurzfilmprogramms, das Gereon Schmitz und Florian Wimmer mühsam und ungefördert zusammengeliehen haben und das jetzt vom Berliner „Sputnik„ -Kino aus westwärts rollt.

Die Filme kommen aus Bulgarien, der CSSR, Kuba, Polen, der UdSSR; viele Studienarbeiten der Filmhochschulen sind darunter (zum Beispiel Lodz, Moskau), ein Mix aus Dokumentar -, Spiel- und Animationsfilmen in Farbe, getönt oder schwarzweiß, immer 35 Millimeter und mit einem Montagehintergrund von zirka 70 Jahren Kinoprawda, seit Vertow gerechnet.

Die vier Programmblöcke sind jeweils 90 Minuten lang Alltag, wie er sich darstellt: „Arbeit“, „Alltagsmythen“, „Mißstände“ und „Lebensläufe“. Der einzige Film, der auch westlichen Augen vertraute Bilder liefert, ist Die Weltraumodyssee II (Regie: Jan Sverak, CSSR 1986). Der Film beginn mit einem heroischen Musik- und Tonzitat aus 2001 - Odyssee im Weltraum, mitten im All. Von oben sichtet man metallisch-blaue Klötze. Die Kamera fährt ran statt fremder Planeten ein sozialistischer Häuserblock. In einem Fenster ist Licht. Umschnitt auf um 180 Grad gekippte Dachantennen, die wie Fühler ins Blaue ragen; dann Großaufnahme einer alten Frau, die aus dem Fenster in die Ferne blickt. Ottilie will ihre Freundin Mariechen besuchen.

Eigentlich wohnt Mariechen nur einen Wohnblock weg, aber Ottilie ist seit dem Herbst nicht mehr so gut zu Fuß, und der Schnee liegt hoch. Sie räumt das Zeitungspapier aus ihren Winterstiefeln, hängt den Küchenkalender aus Stoff übers TV und erzählt im Rausgehen über allmorgendlich eingefrorene Nasen und den Mangel an warmen Schuhen in ihrer Jugend.

Dann sieht man sie in der Totalen, eine kleine schwarze Gestalt vor grauem Häusermeer in weißem Schnee, vereinzeltes Wolfsgeheul. Danach eine Großaufnahme von ihren schwarzen Filzstiefeln, gegengeschnitten mit Bildern von Astronauten beim Betreten des Mondes. Ein kleiner Schritt für mich und ein großer Schritt für die Menschheit, sagt Armstrong...

Endlich betritt Ottilie den Aufzug, sucht nach dem richtigen Knopf auf der riesigen Leiste, zögert, putzt sich die Brille und drückt. Das gesamte Räderwerk der Technik setzt sich in Gang. Aufzugschacht und Zahnräder in schneller Schnittfolge. Schließlich die zärtliche Umarmung der beiden auf dem Flur, montiert mit der Jubelszene aus der Nasa -Zentrale in Houston, Texas. Welche Ziele werden wo erreicht? Eine zynische kritik an der menschenfeindlichen Welt der genormten Planwirtschaft und zugleich eine bösartige Farce auf die technische Hochleistungsgesellschaft des Westens.

Ein weiterer Film Jan Sveraks, Die Ölfresser, parodiert Natur- und Tierfilme (CSSR 1988, Farbe). Ein „Wildwest„-Jeep rast durch die Abendsonne. Wissenschaftler auf Expedition ins Braunkohletagewerk in Nordböhmen. Gesucht: Ein bisher unbekanntes Tier, genannt der Ölfresser. Dort, wo Kohlenmonoxydkonzentration und Ölverseuchung jedes Leben unmöglich machen, entdecken sie ein kleines, grüngenopptes Plastik-Alien beim Bad im Ölschlick. Sie fangen das Baby, füttern es mit Motoröl und Auspuffgasen und erwägen den Transport nach Prag zu weiteren Forschungszwecken. Das Unternehmen wird schließlich um zwei Jahre verschoben, damit das Tier auf dem Transport durch die gesunde Gegend nicht stirbt: an Sauerstoffvergiftung.

Bei diesen Filmen wird noch geschmunzelt. Ernst wird es bei Haus Nr.8 (Regie: Nikoklj Volev, Bulgarien 1986, schwarzweiß, Preisträger der Oberhausener Kurzfilmtage). Erstaunlich, daß dieser Dokumentarfilm überhaupt gedreht werden durfte. In einem Heim für geistig behinderte Kinder wird ein Friedensfest inszeniert. Bei den Proben werden Kinder zu sportlichen Übungen mit Ball, Reifen und Band gedrillt. Kinder, die nicht ihre Glieder kontrollieren können, müssen zu einer Musik tanzen, die ihre Bewegungen verstümmelt, sie müssen Marschlieder singen, die sie nicht verstehen und die für sie keinen Sinn haben. Refrain: Immer soll es Frieden geben, immer soll es Mama geben - und auch mich. Im Unterricht gefragt, was Frieden ist, summen sie die Melodie dieses Liedes. Die Stimmung unter den Kindern ist aggressiv, die „Erziehung“ menschenverachtend. Etwa die Waschung am Abend vor dem Fest: Den Kindern wird der Wassereimer über den Kopf ausgeschüttet - fertig. Die Kinder schreien, zittern. Ausgemergelte, unterernährte Gestalten wanken über die Neonflure.

Eine davon lernt man näher kennen: Ivan ist mongoloid. Zu der Marschmusik kann/will er nicht tanzen. Aber plötzlich ertönt AC/DCs Pull the Trigger (wahrscheinlich hat ihm das Team den Song vorgespielt), und da legt Ivan los. Er vibriert von innen zu der Hardrock-Musik, schüttelt sich im Rhythmus, zieht sein Hemd aus und bindet es sich um den Körper - Bewegungen voll Erotik und Ausstrahlung. Er macht sich einfach frei. Als Ivan 18 ist, wird er in ein Männerheim verlegt. Aus dem Lieferwagen ausgestiegen, sieht er seine Zukunft: Im Hof stehen, sitzen, stolpern zahnlos grinsende alte Männer. Alles wird nur noch schlimmer. Er bekommt seinen Ball abgenommen, wird ärztlich untersucht und ins Bett gesteckt - wie ein Kind. Dann Rückblende auf einen der glücklichen Momente im Kinderheim - als der Betreuer ein Kind nach dem anderen hochhebt und über seinem Kopf schwenkt. Und hier, erstmals, lachende Kinderaugen. Die Kamera steht dicht neben dem Erzieher, filmt aus seiner Perspektive. Eine lange Einstellung. Das Hochheben der Kinder wird in Zeitlupe gefilmt, die einzelnen Bewegungsetappen werden überblendet, und je höher das Kind kommt, desto lichter wird das Bild.

Dann Schwarzbild und keine Atempause. Weiter geht's mit Der Rattenfänger (Regie: Andrzej Czarnecki, Polen 1986, Farbe). Ein Dokumentarfilm über den letzten Rattenfänger Polens.

Zu Beginn führt der Rattenfänger ein Experiment vor: Zwei Aquarien, in jedem Aquarium schwimmt ein Ratte. Die erste Ratte säuft nach fünf Minuten ab. Großaufnahme des verzweifelt schwimmenden, dann abtrudelnden Körpers in schmutzigblauem Wasser. Die zweite Ratte läßt er auf einem Brettchen herauskrabbeln, dann schmeißt er sie wieder rein. Nach zehn Stunden schwimmt die Ratte immer noch - bevorzugt an der Stelle, wo das Brettchen war. Diese Ratte schwimmt noch 15 Stunden, ehe sie aufgibt, erläutert der Rattenfänger in sachlichem Tonfall. Es folgt eine praktische Einführung in die Kunst des Massenmordes.

Wichtigster Grundsatz des Rattenfängers: „Man muß die gesamte Population vernichten.“ Und dies nicht nur mit Gift, sondern vor allem mit Psychologie: „Man muß das Vertrauen der Ratten gewinnen.“ Er beweist seine Theorie an der Vernichtung einer Rattenplage im Schlachthaus. Baumelnde Schweinehälften und Ratten überall. Er streut ihnen Futter aus; die Ratten gewöhnen sich allmählich an ihn und laufen nicht mehr weg. Während dieses Films lernt man die Ratten kennen und mögen. Die Kamera beobachtet sie bei Tag und per Infrarotfilm - bei Nacht. Ratten, wie sie die Katze in die Flucht schlagen, wie sie spielen, vögeln, und rohe Eier transportieren: Die eine Ratte liegt auf dem Rücken und umklammert mit den Vorderpfoten das Ei. Eine andere Ratte schleift sie am Schwanz zur Vorratskammer.

Das Morden geschieht in drei Etappen: Vergiftetes Futter vernichtet 95 Prozent der Ratten. Obwohl Leichen sich um das Futter stapeln, fressen die Ratten weiter - einmal vertraut, immer vertraut. Bis auf eine erschießt der Rattenfänger den Rest und diese letzte, weise Oberratte wird brutal geangelt: Sobald sie den Köder im Mäulchen hat, reißt er die Angel hoch und klatscht sie gegen die Wand. Einmal, zweimal, tot.

Zwischendurch gibt es auch Heiteres, etwa den AnimationsfilmZerknautschte Welt (Regie: Boiko Kanew, Bulgarien 1987, ebenfalls Preisträger in Oberhausen). Eine Welt aus Papier. Die zweidimensionalen Figuren können knittern, krumpeln und zerschrumpeln. Bei der Liebe rollen die Figuren ineinander, im Gefängnis werden sie per Heftzwecke an die Wand gepinnt, und wer beim Rauchen nicht aufpaßt, brennt sich ein Loch in die Brust. Angebetet wird das Bügeleisen, doch auch dieser Gott entpuppt sich als Widersacher: Ein riesiges Bügeleisendenkmal erschlägt die Figuren. Was bleibt, sind die Papierschwalben und der Wunsch, es ihnen gleichzutun.

Heike Barten

Weitere Termine: 18. und 19.11. im Folkwangmusum Essen, vom 7. bis 10.12. in der Kinemathek Bonn, vom 14. bis 20.12. im Kommunalen Kino Freiburg, vom 3. bis 9.1.90 im Metropolis Hamburg und vom 5. bis 8.2. im Kommunalen Kino Bremen.