Wir brauchen eine richtige Zeitung

■ Der Mikrobiologe und Sprecher des Neuen Forums fordert Zivilcourage und will demnächst Erich Loest und Wolf Biermann in der DDR mit dabei haben

Jens Reich

Ich stehe hier auf dieser Lastwagenpritsche, weil ich für das Neue Forum sprechen soll. Wir kennen alle die alte Spruchweisheit: „Tapeziert der Nachbar sein Haus, dann tapezieren wir noch lange nicht.“ Dagegen setzen wir: „Renoviert der Nachbar seinen Roten Platz, dann tapezieren wir unseren Alex.“ Und außerdem: „Tapeziert der Nachbar seinen Kreml, dann gründen wir ein Neues Forum.“ Und das Neue Forum darf nicht nur miesepetrig geduldet werden, es braucht die offenherzige Anerkennung. Und das gilt auch für die anderen neuen Bürgerinitiativen. Tapeten haben wir heute genug beschrieben, wir brauchen nunmehr eine richtige Zeitung. Und wir brauchen den Zugang zu den elektronischen Medien. Das Neue Forum brennt darauf, das gähnende Loch aufzufüllen, das der Schwarze Kanal hinterlassen hat.

Ein Wort zum Dialog zwischen Volk und Regierung: Ja, es stimmt, wir haben die Sprache wiedergefunden und die Welt kennt seitdem dieses verschlafene Land nicht wieder. Wir wollen dabei aber nicht außer acht lassen, der Dialog ist nicht das Hauptgericht, sondern die Vorspeise.

Und er wird nicht mit Zuckerwatte zubereitet, sondern mit Pfeffer und Paprika. Es geht nämlich nicht um artiges Gerede, sondern darum, daß die Konflikte in unserer Gesellschaft und mit den Regierenden ohne Umschweife ausgetragen werden - natürlich in demokratischen Formen. Es geht nicht um Dampfablassen und dann wieder Schläfrigwerden, sondern wir müssen Druck erzeugen, damit es endlich vorwärts geht in unserem Lande. Unsere Bürgerbewegungen haben Kontrollaufgaben. Sie müssen verhindern, daß es je wieder zu Sprachverlust und Aneinandervorbeireden und -handeln kommt.

Nicht jeder von uns wird regieren wollen, aber jeder muß aufpassen können, daß nichts mehr unter den Teppich kommt. Für unsere Volksvertretung wollen wir Frauen und Männer wählen, die dem Volk Rede und Antwort zu stehen imstande sind.

Leute unseres Vertrauens, nicht solche, die sich einen Bezugsschein für ihre führende Rolle abholen wollen. Und dazu brauchen wir eine Wahl, die diesen Namen verdient. Mit Auswahl zwischen Kandidaten und verschiedenen Programmen, mit geheimer Abstimmung und fehlerfreier Zusammenrechnung. Wir wollen nicht nur Papiertüten falten. Es ist wichtig, daß die da oben die Verfassungsartikel kennenlernen und einhalten.

Noch wichtiger ist aber, daß wir alle uns die Freiheit nehmen, die uns zusteht. Freiheit, so hat man uns in der Schule erzählt, sei Einsicht in die Notwendigkeit. Ist da nicht zuviel Sklavengeist dabei? Da gefällt mir ein anderes Wort viel besser, und es gehört deshalb hierher: „Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden.“ Freiheit ist Befreiung!

Wir alle müssen uns frei machen von der Angst, es könnte alles aufgezeichnet und gegen uns ausgewertet werden, frei machen von feiger Vorsicht, nur nicht den Kopf aus dem Salat stecken, sonst gibt's einen drauf. Von Kleinmütigkeit: es hat ja doch keinen Sinn, nichts wird sich ändern, alles bleibt beim Alten.

Nein, wir müssen unser Verfassungsrecht wahrnehmen, nicht nur hier auf der Demo, sondern vor dem Chef, vor den Kollegen, vor dem Lehrer, vor der Behörde - überall. Und wir müssen jedem beistehen, der dieses Recht ausübt, nicht abwarten, ob er sich den Hals bricht. Wir wollen zuletzt auch Solidarität nicht vergessen. Wir wollen, zum Beispiel, an die Prager Einwohner denken, an die blauen Flecken auf ihren Rücken, an ihre Verhafteten. Seit wann darf man politische Konflikte mit dem Knüppel austragen? Wir wollen auch die Alten nicht vergessen, die dieses Land aus den Trümmern geholt haben, und die jetzt vielleicht krank oder behindert sind. Sie brauchen unsere freundliche Zuwendung. Auch an die Kinder wollen wir denken, die stillsitzen müssen, sogar dann, wenn in Berlin eine Freiheitsdemonstration stattfindet. Nicht zuletzt auch an die Ossietzky-Schüler in Pankow. Sie sind von der Schule geflogen, weil sie das Recht wahrnahmen, für das wir heute hier stehen. Sie haben eine großzügige Wiedergutmachung verdient, keine mäkelige Begnadigung.

Und zum Schluß denken wir an Südafrika, an die erste große Freiheitsdemonstration. Wir mußten nur die Sprache wiederentdecken, unser Schweigen brechen. Die Menschen dort in Südafrika mußten sich den Knebel aus dem Rachen reißen. Sie beweisen Todesmut; laßt uns wenigstens Zivilcourage zeigen. Ein letztes freundliches Wort: Vielleicht können wir bei einer anderen Veranstaltung Erich Loest oder Wolf Biermann dabei haben. Vielleicht können wir die Leute dabei haben, die nicht mehr bei uns sind, weggegangen sind, und wiederkommen möchten.