Dialog muß zum Normalfall werden

■ Der Dozent am Predigerseminar in Wittenberg ist ein Vordenker der Bürgerrechtsbewegung

Friedrich Schorlemer

Ich spreche über Solidarität und Toleranz. Im Herbst 1989 sind wir „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft neu zugewandt“, und bald werden wir dieses Lied auch wieder singen. Hier lohnt es sich jetzt, hier wird es spannend, bleibt doch hier. Jetzt brauchen wir buchstäblich jeden und jede. Es ist wahr: Unser Land ist kaputt, ziemlich kaputt; es ist wahr: Dumpf, geduckt, bevormundet haben wir gelebt, so viele Jahre. Heute sind wir hierher gekommen, offener, aufrechter, selbstbewußter, wir finden zu uns selbst. Wir werden aus Objekten zu Subjekten des politischen Handelns. Wir können stolz sein.

Lebten wir gestern noch in der stickigen Luft der Stagnation, die atemberaubend war, so erleben wir jetzt Veränderungen, die atemberaubend sind. Der Wehrunterricht wird abgeschafft, der Zivildienst wird eingeführt. Plötzlich ist es zum Erlebnis geworden, unsere Zeitungen zu lesen. Aus Zerrspiegeln wurden Spiegel, warum mußten wir solange warten? Ist das alles nur ein Traum, aus dem es ein bitteres Erwachen gibt? Oder sind wir mitten in einem wirklichen dauerhaften demokratischen Aufbruch?

Wir brauchen jetzt, denke ich, Toleranz und kritische Solidarität miteinander und nicht das Ausufern der verständlichen Emotionen. Wir brauchen eine Koalition der Vernunft, die quer durch die bisherigen Parteien und quer durch die neuen Bewegungen geht. Aber dazu gehört auch, daß die neuen Bewegungen, alle, zugelassen werden. Der Wandel ist schon unübersehbar, aber noch ist er umkehrbar.

Hatten die Herrschenden bisher die Signale unserer gesellschaftlichen Krise nicht gehört, höchstens abgehört, so haben die dramatischen Widersprüche sie jetzt gezwungen, von ihren Tribünen herabzusteigen und den gleichberechtigten Dialog zu beginnen. Und ich habe erlebt, wie viel sie sich jetzt anhören müssen. Und wir werden viele in ihren Ämtern nicht mehr tolerieren können, und ich möchte meinen Respekt denjenigen aussprechen, die freiwillig zurücktreten. Der nun begonnene Dialog darf sich aber nicht aufs Luftablassen beschränken, sonst entartet er zum großen Papperlapapp des Volkes, bis der Winter einkehrt und alles wieder in die alten Bahnen gebracht wird. Wir brauchen weitere spürbare Ergebnisse des Dialogs.

Der Dialog muß zum Normalfall des Umgangs zwischen Volk und Regierung werden. Er darf nicht Notmaßnahme im Krisenfall sein. Wer gestern noch die scharfe Kralle der Macht zeigte und heute das weiche Pfötchen des Dialogs hinhält, darf sich nicht wundern, daß viele noch die Kralle darunter fürchten. Wer gestern noch die chinesische Lösung für richtig hielt, muß heute, und zwar verbindlich, erklären, daß dies für die DDR nicht zur Debatte steht. Sonst bleibt die Angst.

Wir brauchen nun eine Struktur der Demokratie von unten nach oben. Die Regierung hat auf das Volk zu hören und nicht das Volk auf die Regierung. Wir lassen uns nicht mehr bevormunden. Schließlich: Eine Atmosphäre des Vertrauens in unserem Lande entwickelt sich erst, wenn das größte innenpolitsche Sicherheitsrisiko, die Staatssicherheit, radikal abgebaut und vom Volk kontrolliert wird. Vierzig Jahre haben wir das erduldet, jetzt wollen und können wir diesen Angstapparat weder weiter tolerieren noch bezahlen. Fehler dürfen nun nicht flugs korrigiert, sie müssen auch als Fehler zugegeben werden.

Aber, liebe Freunde, liebe Mitbürger in unserem ganzen Land, reißen wir nun nicht neue Gräben auf, trauen wir jedem eine Wende zu, auch wenn nicht jeder in seiner alten Position verbleiben darf. Aber bitte keine Rachegedanken! Wo persönliche Verantwortung oder Schuld vorliegt, ist strikte Gesetzlichkeit einzuhalten. Tolerieren wir nirgendwo Stimmen und Stimmungen der Vergeltung. Und zu uns aus der neuen demokratischen Bewegung: Setzen wir an die Stelle der alten Intoleranz nicht neue Intoleranz! Seien wir tolerant und gerecht gegenüber den alten und neuen politischen Konkurrenten, auch einer sich wandelnden SED. Denken wir daran, welche Befürchtungen der neue erste Mann auslöste und welche neue Bewegung mit ihm schon in Gang gekommen ist. Ich meine, wir wollen und wir können unser Land jetzt nicht ohne die SED aufbauen, aber sie muß nicht führen.

Toleranz erwächst aus der Erkenntnis, daß wir irren und den alten Fehlern neue hinzufügen werden; damit aber niemand wieder Irrtümer unangefochten als Wahrheiten ausgeben kann, dazu brauchen wir die volle Demokratie, die keinen festgeschriebenen Wahrheits- und Führungsanspruch einer Gruppe verträgt, nirgendwo. Darum Demokratie - jetzt oder nie. Ohne die wache Solidarität aller demokratischen Kräfte wird es nicht gelingen, eine lebensfähige Demokratie aufzubauen. Die Zersplitterung der Demokraten ist stets die Stunde der Diktatoren. Wir werden noch durch ein Tal hindurchgehen, wir werden uns nicht durch besonderen Wohlstand auszeichnen können, aber vielleicht durch mehr Freundlichkeit und Wärme. Aus Wittenberg erinnere ich Regierende und Regierte, also uns alle, an ein Wort Martin Luthers: Lasset die Geister aufeinander prallen, aber die Fäuste haltet stille.