Keine schnellen Scheiterhaufen

■ Der SED-Bezirkssekretär von Berlin attestiert seiner Partei Lernfähigkeit

Günter Schabowski

Liebe Berlinerinnen und Berliner, billigen wir einander die Kultur des Dialogs zu. Was bewegt einen Kommunisten in dieser Stunde, im Angesicht und im Blickfeld von Hunderttausenden. Bitteres ist hier gesagt worden. Es geht an unsere, auch an meine Adresse. Nur wer die Mahnung hört und versteht, ist fähig zu neuem Anfang. Wir alle wollen eine DDR, von der jeder sagen kann: Das ist unser Land! Aus Prag erreichen uns indes wieder bedrückende Nachrichten und Bilder. Viel Mühe wird es kosten, vertanes Vertrauen zurückzugewinnen. Und dennoch stimmen nicht wir, die wir hier stehen, stimmt nicht das Volk letztlich im Ziel der Erneuerung überein - wenngleich von unterschiedlichen Ausgangspositionen. Auch zwischen Andersdenkenden müssen die Hürden nicht unüberwindlich sein. Die SED bekennt sich zur Umgestaltung. Das kam spät, aber es ist unwiderruflich. Wir sind gewillt und lernen unverdrossen, mit Widerspruch, mit Pfeffer und Salz zu leben. Und wir werden die Produktivität des Widerspruchs nutzen. Das Zentralkomitee der SED, das am Mittwoch zusammentritt, wird das mit seinem angekündigten Aktionsprogramm meßbar machen. Die Dynamik des Aufbruchs zum Neuen läßt sterilen politischen Nachlaßverwaltern keine Chance. Das ist sicher!

Aber ich sage hier offen: Ich mag auch nicht die schnellen Scheiterhaufen, auf denen manche alles brennen sehen wollen, was an unbestreitbaren Leistungen in den vergangenen Jahrzehnten vom Volk vollbracht wurden. Auch ich wende mich an die Initiatoren und an die Organisatoren dieser Kundgebung und bezeuge ihnen meinen Respekt: den Künstlern, den Schriftstellern, den Kulturschaffenden. Wir müssen heute sagen, mit ihrem wachen Gespür für die Stimmung des Volkes haben sie gesellschaftliches Bewußtsein gefördert. Sie haben Wichtiges für die politische Gesundheit unseres Landes getan. Liebe Berliner, uns macht hoffnungsvoll der Schulterschluß zwischen Krenz und Gorbatschow. Ich spreche jetzt eine Uraltlosung aus: Vorwärts im festen Bund mit unseren sowjetischen Freunden. Gut, wie die neue Zeit auch strapazierten Worten Aufrichtigkeit und neuen Sinn verleiht. Das Begonnene ist unumkehrbar. Regen wir heute die Hände für unser Land, für einen Sozialismus, der stark macht, weil die Menschen ihn wollen.