Hans Modrows Vordenker warten schon

■ In Ost-Berlin zirkulieren jetzt erste Reformkonzepte von SED-Wissenschaftlern / Von Walter Süß

Bisher hielten sie sich hinter einem philosophischen Forschungsprojekt an der Ostberliner Humboldt-Universität versteckt, jetzt suchen sie die Öffentlichkeit: junge DDR -Wissenschaftler mit Reformkonzepten für einen Sozialismus in neuen Farben. Der künftige Ministerpräsident Modrow wird nicht an ihnen vorbeikommen.

Der gesellschaftlichen Entwicklung „Ziel und Richtung“ zu geben, beansprucht die SED immer noch - doch ihre Führung ist derzeit eher in Rückzugsgefechte gegenüber einer aufbegehrenden Gesellschaft verwickelt. Ob Politbüromitglied Schabowski auf dem Berliner Alexanderplatz am vergangenen Samstag oder der neue Leipziger SED-Chef Wötzel am Montag die SED-Größen schaffen es nur noch mit Hilfe von Lautsprechern, die gellenden Pfeifkonzerte zu übertönen.

Auch die von Egon Krenz am letzten Freitag vorgestellten Grundzüge eines „Aktionsprogramms“, das von dem seit gestern tagenden ZK-Plenum verabschiedet werden soll, helfen dem nicht ab. Krenz‘ Fernsehrede war eher ein Themenkatalog, der das Wichtigste, den Machtanspruch der SED, ausspart als eine Anleitung zum Handeln. Sie hat - ebenso wie der Entwurf eines „Reisegesetzes“ - den gesellschaftlichen Unmut eher noch gesteigert.

In der kulturpolitischen DDR-Wochenzeitung 'Der Sonntag‘ war am Wochenende zu lesen: “...noch ist kein einziger realer Schritt dazu getan, um das Geschehene unwiederholbar zu machen, und doch meinen viel zuviele schon wieder, man habe eine 'Wende‘ eingeleitet.“ Autor dieses Kommentars ist Michael Brie, „Bereichsleiter Historischer Materialismus“ an der Sektion Philosophie der Humboldt-Universität Berlin und SED-Mitglied.

Gerade für SED-Mitglieder, die sich mit ihrer Organisation noch identifizieren, ist der fast vollständige Autoritätsverfall der Partei alarmierend. Einige suchen nach Alternativen für eine innere Reform. Viel erfährt man davon nicht, denn die Millionenpartei schirmt sich noch immer von der Öffentlichkeit ab wie eine konspirative Sekte. Auf Kundgebungen oder bei „Bürgergesprächen“ trifft man zwar auf Parteimitglieder, die ihrem Unmut nicht weniger erbost als andere Bürger Luft machen, doch das ist Kritik in Einzelpunkten, keine Alternative zur herrschenden Politik.

Umrisse einer solchen Alternative werden dagegen in Arbeiten einer Gruppe von SED-Mitgliedern - darunter auch Michael Brie sichtbar. Die Diagnose der Reformstrategen ist schonungslos. In einem Papier vom 22.Oktober schreiben sie, „daß ein weiteres Hinausschieben grundlegender Reformen oder bloße Scheinmanöver nicht nur den völligen Machtverlust der SED nach sich ziehen werden, sondern die DDR, wenn auch erst nach einem Zerfallsprozeß über einige Jahre (oder Monate) in die Hände derjenigen Kräfte spielt, die kein Interesse am Sozialismus“ haben.

Die Autoren dieses und anderer Papiere sind - um nur einige Namen zu nennen - neben Michael Brie Rainer Land, Dieter Segert und Rosi Will. Sie lehren Philosophie beziehungsweise Staatsrecht an der Humboldt-Universität. Hervorgegangen ist die Gruppe aus einem Forschungsprojekt. Das Projekt, das seine erste Konferenz an der Humboldt-Universität im November 1988 abhielt, konnte damals noch nicht so subversive Begriffe wie „Reform“ im Titel tragen. Es wurde daher „Philosophische Grundlagen der Erarbeitung einer Konzeption des modernen Sozialismus“ genannt.

Ursprünglich handelt es sich also um einen Arbeitszusammenhang politisch engagierter Sozialwissenschaftler, nicht um eine Organisation. Auch heute noch wollen sie - so erläutert Rainer Land - nicht etwa „Orientierungen“ vorgeben, sondern mit Material und Argumentationen „den streitenden Subjekten helfen, Positionen zu entwickeln“. Die Vorschläge sind zum Teil sehr konkret, bis hin zu einer Liste von „Sofortmaßnahmen“.

Einer etwas breiteren Öffentlichkeit hat die Gruppe zum ersten Mal in der vergangenen Woche ihre Überlegungen zugänglich gemacht. Auf einer Pressekonferenz, zu der nur Vertreter von DDR-Medien eingeladen waren, stellte sie sich vor. Die Resonanz war unterschiedlich: Die Zeitungen der mit der SED vorgeblich „befreundeten“ Parteien, der liberaldemokratische 'Morgen‘ und die christdemokratische 'Neue Zeit‘, berichteten - wenn auch nur kurz.

Die SED-Presse aber schwieg über die Reformer in der eigenen Partei. Das war konsequent, hat doch das 'Neue Deutschland‘ früher schon Leserbriefe aus diesem Kreis nicht abgedruckt und die Briefschreiber mit nichtssagenden Floskeln abgefertigt. Das DDR-Fernsehen gab ihnen - so Dieter Segert - die „Möglichkeit zu zeigen, wie wir aussehen, aber nicht, Konzeptionen vorzustellen“.

Auf einer zweiten, diesmal allgemein zugänglichen Veranstaltung in der Ostberliner Akademie der Künste am vergangenen Freitag erhielten die kritischen Wissenschaftler Gelegenheit, ihre Thesen öffentlich zu debattieren. Sie wollten - so Rainer Land - „zeigen, daß an der Parteibasis andere Standpunkte existieren als in der Parteiführung“. In der Akademie sind die Reformer auf breite Zustimmung gestoßen.

Wie groß ihr Einfluß aber in der SED ist, läßt sich schwer abschätzen. Deutlich ist nur, daß der ehemalige Geheimdienstchef Markus Wolf, Freund des künftigen Ministerpräsidenten Modrow, ihnen viel Sympathie entgegenbringt - machte er doch in einem Interview mit dem DDR-Fernsehen auf die jungen Wissenschaftler aufmerksam.

Von den Reformern in anderen sozialistischen Ländern unterscheiden sich diese Wissenschaftler deutlich. Wie diese konstatieren sie, daß der „administrativ-zentralistische Sozialismus“ gescheitert ist. Sie fügen dann aber hinzu, daß auch das ökonomisch überlegene Modell der entwickelten kapitalistischen Länder untauglich ist, die globalen ökologischen und sozialen Probleme zu lösen. Deshalb müsse nach einer neuen Sozialismuskonzeption gesucht werden.

Ihr umfassender Ansatz hindert sie nicht daran, sich die konkrete DDR genau anzusehen. Das grundsätzliche Bekenntnis zum Sozialismus hat die Kritikfähigkeit gegenüber der Lage der eigenen Gesellschaft eher noch verschärft. Sichtbar wird das in einem Papier, das noch kurz vor dem Sturz Honeckers geschrieben wurde und in der Ostberliner Intelligenz heftige Debatten ausgelöst hat. Dort wird als „zentraler Punkt“ der sich anbahnenden Krise die „wachsende Ohnmacht der Individuen“ diagnostiziert.

Der übermächtige staatliche Apparat betreibt „Vor- und Fürsorge für bestimmte, staatlich festgelegte Bedürfnisse“ und fördert dadurch ein „parasitäres Verhältnis zum Staat“. Die Kehrseite davon „ist der Ausschluß der Massen (einschließlich der Masse der Parteimitglieder) aus jenem Mechanismus, durch den Politik in ihren Grundzügen bestimmt wird“. Dort, wo Menschen auf Veränderung drängen, wird mit „repressiven Maßnahmen“ reagiert. Das Ergebnis: „Erfahrene Bevormundung und Schönfärberei treiben in lethargische Passivität, kompensierende private Aktivität, zu verzweifeltem Aktionismus oder außer Landes.“

Diese Zeilen wurden vor den Demonstrationen von Hunderttausenden geschrieben. Die damals für die unmittelbare Zukunft prognostizierte „offene politische Krise“ ist wenige Tage später eingetreten. „Die Kluft zwischen allgemeiner Klarheit der Nöte und ihrem bewußten Nichtaufgreifen in der offiziellen Parteipolitik“ war zu groß geworden. Auslöser war dann, wie das ein Diskussionsteilnehmer in der Akademie formulierte, eine „Einheitsfront der Empörung und Verachtung über die Medienpolitik zur Ausreise“.

Die strukturellen Ursachen der Krise sehen die parteiinternen Kritiker - neben der politischen Entmündigung - im Ökonomischen, Ökologischen und Sozialpolitischen. Der ökonomische Rückstand gegenüber den entwickelten kapitalistischen Ländern hat „qualitativen Charakter angenommen„; die industriellen Anlagen sind überaltert; teure Investitionen in „Schlüsseltechnologien“ bringen nur geringe wirtschaftliche Ergebnisse. Trotz aller Planideologie ist eine Steuerung der „finanziellen Prozesse kaum noch möglich“. Die Sparguthaben wachsen, ohne daß es für sie eine materielle Deckung gäbe, der Inflationsdruck steigt.

In der Zerstörung der Umwelt nimmt die DDR in Europa eine Spitzenposition ein, doch es existiert „kein wirksamer und effektiver gesellschaftlicher und ökonomischer Mechanismus zur Signalisierung von kritischen Umweltlagen“. Die Sozialpolitik ist orientiert an dem „Standard der gehobenen Arbeiteraristokratie“. Sie zementiert durch Subventionen überkommene Formen der Bedürfnisbefriedigung wie extensives Essen und Trinken und ignoriert den „tiefgreifenden Wertwandel“, der sich in der Gesellschaft vollzogen hat. Für Eigenständigkeit, Selbstgestaltung des persönlichen Lebens, Flexibilität und eigene Verantwortung bleibt kaum Raum.

So weit die Diagnose. Wie sieht die Therapie aus? In ihren Grundzügen findet sie sich schon in den Forschungsarbeiten von Brie, Land und Segert vom November 1988, freilich dachten die Autoren damals noch in längeren Zeiträumen. Nach dem offenen Ausbruch der Krise haben sie versucht, daraus in verschiedenen kürzeren Papieren und auf den erwähnten Veranstaltungen unmittelbare Handlungsperspektiven, „Sofortmaßnahmen“ genannt, abzuleiten.

In der Akademie der Künste erklärte Rainer Land, die vordringlichste Aufgabe bestehe darin, „politische Legitimität und ein lernfähiges politisches System zu schaffen“. Erst dann könne etwa über Veränderungen in der Ökonomie debattiert werden. Eine vorschnelle Wirtschaftsreform würde die Krise nur noch vertiefen. Zudem setze sie voraus, daß die tatsächliche ökonomische Lage bekannt ist. Doch die kennt - so meint Dieter Segert - noch nicht einmal die Regierung. Im Mittelpunkt muß deshalb eine Reform des politischen Systems stehen. Sie soll in einer „großen Aussprache“ erarbeitet werden, das haben die Reformer schon erklärt, bevor die SED den „Dialog“ auf ihre Fahnen schrieb.

Als weitere „kurzfristige Maßnahmen“ hatten sie damals, als das alles noch utopisch klang, gefordert: ein „Bekenntnis zu Erneuerung des Sozialismus an der Seite der UdSSR„; eine Medienpolitik, die Realität darstellt und Alternativen sichtbar macht; ein Wahlsystem mit mehreren Kandidaten; Abschaffung der Privilegien für Funktionäre; Reiserecht für alle und Rückkehrrecht für ehemalige DDR-Bürger; eine Ökosteuer und eine Neuregelung der Subventionen. Inzwischen sind neue Vorschläge hinzugekommen.

Zwei Fragen hat die jüngste Entwicklung unabweisbar auf die Tagesordnung gesetzt: Wie ist mit dem gesellschaftlichen Aufbruch von unten, seinen Kristallisationsformen in Demonstrationen und „informellen Organisationen“ umzugehen? Und wie ist die Rolle der bisher herrschenden SED in einem veränderten politischen System?

Gegenüber den „informellen Organisationen“ haben die SED -Reformer ihre Haltung geändert. Vor Honeckers Sturz vertraten sie ein Konzept repressiver Toleranz: „Oppositionellen Kräften muß in der Öffentlichkeit ein begrenzter legaler Raum eingeräumt werden, da ihre repressive Unterdrückung unmöglich ist und außerdem den Veränderungsprozeß grundlegend diskreditieren würde.“ Zugleich aber gelte es „zu verhindern, daß diese Artikulation die Form von neuen politischen Parteien mit Anspruch auf die Macht annimmt“.

Diese Formulierungen hatten in der Ostberliner Intelligenz heftige Kritik ausgelöst. Inzwischen haben Land, Will und Segert zu diesem zentralen Problem ein eigenes Papier, datiert vom 22.Oktober, vorgelegt. Darin postulieren sie, daß „informelle Gruppen“ als selbstverständlicher Ausdruck der „politischen Rechte der Bürger“ überhaupt „keiner besonderen Genehmigung“ bedürfen, allerdings im Falle der „Verfassungsfeindlichkeit“ verboten werden können. Das Neue Forum sei sofort zuzulassen. „Formelle Organisationen“, die „Zugang zum politischen System anstreben“, sollten rechtlichen Regelungen unterworfen sein, zugelassen nur, wenn sie „nicht verfassungsfeindlich sind und keine antisozialistischen, nationalistischen, rassistischen oder militaristischen Ziele verfolgen“ und wenn „ihre Arbeit in einer öffentlich nachvollziehbaren Weise“ vor sich geht. Entscheiden dürfte darüber nicht ein Ministerium, sondern nur ein staatliches Wahlorgan oder ein Gericht.

Allerdings ist nur schwer auszumachen, ob die SED-Reformer ihre Position hier aufgrund wachsender Einsicht (und dank stärkeren gesellschaftlichen Drucks) geändert haben oder ob in ihrem älteren Papier noch taktische Überlegungen eine Rolle spielten. Schließlich haben sie ihre Argumentationspapiere der SED-Spitze als Denkhilfe zukommen lassen und wollen ja die Lernfähigkeit der führenden Genossen nicht überstrapazieren.

Die Gretchenfrage an jeden immanenten Reformer ist, wie er es mit der „führenden Rolle“ der Partei hält, die Artikel eins der DDR-Verfassung festgelegt hat. In ihrem neuesten Papier schreiben die SED-Reformer dazu: „Diese führende Rolle kann nur darin bestehen, strategisch begründete und überzeugende Positionen in die öffentliche Diskussion einzubringen. In dem Maße, wie dies gelingt, müssen Formen des direkten administrativen Eingriffs in staatliche oder wirtschaftliche Entscheidungsprozesse abgebaut und schließlich beseitigt werden“ Das würde, genau genommen, bedeuten, daß die Partei auf ihren alleinigen Herrschaftsanspruch verzichtet. Michael Brie dazu im 'Sonntag‘: „Keine neuen Geschenke (...), sondern die Macht, an Politik gleichberechtigt teilzunehmen, darum geht es jetzt.“ Daraufhin hat ein Herr Quäck in der FDJ-Zeitung 'Junge Welt‘ prompt mit polemischem Unterton die Frage gestellt: „Wer füllt die damit entstandenen Lücken?“

Diese Frage treibt auch die SED-Reformer um. Immer wieder verweisen sie auf Polen und Ungarn, äußern Furcht vor „erdrutschartigen Veränderungen der Kräftekonstellationen zugunsten antisozialistischer Kräfte“. Allerdings glauben sie nicht daran, daß eine solche Entwicklung durch repressive Maßnahmen verhindert werden kann, eher werde sie dadurch noch beschleunigt. Ihnen schwebt ein Zweistufenmodell vor. Die nächsten Wahlen 1991 sollen noch vom Parteienblock der „Nationalen Front“ vorbereitet werden. Die vorgeschlagenen „Spielregeln“: Zulassung als „politische Organisation“ ist Bedingung für eine Kandidatur. Keine Organisation darf sich der „Medien anderer Staaten, insbesondere der BRD“ bedienen oder Gelder aus dem Ausland entgegennehmen. Die Wahlen selbst finden nach einem „Verhältniswahlrecht mit Mindestsatz von 5 Prozent“ statt.

Ein solches Modell wirft eine Frage auf, die bei der Diskussion in der Akademie merkwürdigerweise keiner der Zuhörer formuliert hat. Statt dessen hat sie eine Referentin, die Professorin für Staatsrecht Rosi Will, am Schluß der Veranstaltung an sich selbst gestellt: „Bin ich als Kommunistin bereit, mich abwählen zu lassen?“ Ihre Stimme vibrierte leicht: „Ein Kommunist muß sich abwählen lassen.“