Alle Hoffnungen können wir nicht erfüllen...

■ Interview mit der Senatorin für Gesundheit und Soziales, Ingrid Stahmer: Von der Politik nicht aufgefressen zu werden, ist schwierig, die finanziellen Mittel sind knapp und die sozialen Probleme in dieser Halbstadt groß

taz: Charakteristikum des rot-grünen Senats sollte auch ein neuer Politikstil sein. Sich nicht von der Politik auffressen lassen, hieß die Devise gerade bei den Senatorinnen. Frißt die Politik Sie auf?

Stahmer: Das ist ganz schön schwierig in der Situation, in der ich mich befinde, mit den drei Ämtern: Soziales, Gesundheit und dann noch dem Bürgermeisteramt - und dazu noch die besondere Situation mit den Aus- und Übersiedlern. Aber ich stehe immer noch dazu, daß man es zumindest versuchen muß, sich nicht auffressen zu lassen. Wobei die Medien darauf eher böse reagieren, wie zum Beispiel bei Anke Martiny. Die hatte das ja bei einer Pressekonferenz angekündigt und nachher hieß es in der ganzen Presse: die Frau will offensichtlich nur frei haben und nicht arbeiten.

Wie sieht die Situation bezüglich Aus- und ÜbersiedlerInnen aus? Es hieß, für diesen Monat seien 10.000 Menschen zu erwarten.

Diese Zahl bezieht sich auf die Unterkünfte, die wir dieses Jahr noch schaffen müssen. Für diesen Monat werden 8.500 erwartet. Wie sich das tatsächlich entwickelt, kann man schlecht sagen. Im Moment halte ich alle Entwicklungen für möglich. Es können mehr oder weniger werden - das hängt sehr stark von den greifbaren Reformen in der DDR ab. Im Zusammenhang mit der versprochenen Reisefreiheit für DDR -Bürger muß man allerdings damit rechnen, daß über diesen Weg viele kommen, die dann auch bleiben wollen. Ich glaube aber auch, daß sich viele in der Stadt diesen spontanen Entschluß, zum Beispiel, über die Botschaften in den Westen zu kommen, nochmal überlegen werden - vorausgesetzt, in der DDR tut sich ausreichend etwas und sie bekommen eine akzeptable Rückkehrmöglichkeit.

Als Senatorin, die für die Unterbringung und Aufnahme der Übersiedler zuständig ist, müßte Ihnen die angekündigte Reisefreiheit eigentlich Angst einjagen?

Langfristig ist die Reisefreiheit das, was der DDR die Chance schaffen wird, die Menschen bei sich zu behalten. Rein praktisch muß man vor diesem Ansturm, wenn er denn kommt, schon ein bißchen Angst haben. Aber das muß man dann halt aushalten.

Welche Abstriche mußte Ihr Haushalt bei der Finanzierung für Aus- und Übersiedler hinnehmen?

In meinem Haushalt keine. Dafür werden Mittel aus dem Gesamthaushalt des Landes Berlin zur Verfügung gestellt. Ich habe darauf geachtet, daß der Gesundheits- und Sozialetat nicht eingeschränkt wird.

Aber einen gewisser Prozentsatz mußten Sie doch auch abgeben?

Ein gewisser Prozentsatz trifft alle. Sie haben vielleicht verfolgt, daß im Rahmen der Senatsbeschlüsse zur Haushaltsplanung jedes Ressort drei Prozent einsparen mußte. Mit diesen drei Prozent werden dann Unterkünfte, Wohnungsbau, zusätzliche Lehrkräfte mitfinanziert. Für Aus und Übersiedler sind im nächsten Jahr 300 Millionen Mark im Haushalt vorgesehen. Ich habe im Rahmen dieser Drei-Prozent -Regelung 30 Millionen hergeben müssen.

Müßte man nicht ehrlicherweise mal durchrechnen und auch sagen, was an rot-grüner Sozial- und Gesundheitspolitik in dieser Situation finanzierbar ist - und was nicht?

Das kann man zur Zeit nicht machen, weil die Koalitionsvereinbarungen auf vier Jahre angelegt sind. Es gibt einige Dinge, die wir dieses Jahr nicht realisieren können, aber an denen ich nächstes Jahr festhalten werde. Ich habe zum Beispiel eine Vorlage gemacht zur Anhebung des Pflegegeldes. Das kostet 10 Millionen und wird zur Zeit vom Finanzsenator abgelehnt, weil wir nicht genug Geld haben. Und wir haben unter anderem nicht ausreichend Geld, weil wir Aus- und Übersiedler unterbringen müssen. Vor allem haben wir nicht ausreichend Geld, weil wir Wohnungsbau betreiben müssen. Die Erwartungen gerade von Projekten, die auch an Rot-Grün interessiert sind, sind natürlich enorm hoch. Die Hoffnungen können deshalb nicht alle erfüllt werden, weil gewisse Spielräume, die man letztes Jahr hatte, fehlen. Zum Beispiel die 750-Jahr-Feier oder das Kulturjahr. Da fanden wir einige Ausgaben des alten Senats übertrieben. Nehmen wir mal an, der alte Senat hätte für dieses Jahr noch fünf Millionen für eine Tour de France vorgesehen - fabelhaft. Ich hätte die sofort gestrichen und damit was im Bereich Gesundheit und Soziales finanziert.

Nun gibt es einige Probleme, die - vier Jahre hin oder her - keinen Aufschub vertragen, zum Beispiel, die Krankenhäuser St. Marien und Britz...

Ja, das sind aber keine Finanzfragen. Im Fall der beiden Krankenhäuser besteht das Problem darin, daß es einen geltenden Krankenhausplan gibt, den man nicht außer Kraft setzen kann. Alle Krankenhausträger haben ihre Bescheide bereits bekommen, als der Plan in Kraft gesetzt wurde. Die Krankenkassen versteifen sich darauf, daß diese Betten gestrichen werden. Ich habe Besuch von Kassenvertretern gehabt, die uns drohen: Falls sich dieser Senat bei der Durchführung des Krankenhausplanes unzuverlässig zeige, würden sie dann die Beiträge bei den Krankenversicherungszahlern anheben. Dann könnten wir, zum Beispiel, die Sozialstationen nicht so ausbauen, wie wir das möchten. Wir brauchen aber ein funktionierendes Netz von Sozialstationen, denn Krankenhausbetten sollen nur dann abgebaut werden, wenn die entsprechenden ambulanten Hilfen zur Verfügung stehen. Wenn ich also bezüglich St. Marien und Britz etwas ändern will, muß ich zu einer Übereinstimmung mit den Kassen kommen. Das versuchen wir zur Zeit, indem wir als Senat erklären haben, daß wir sowohl das St. Marien als auch Britz erhalten wollen.

Ein anderer wichtiger Teil der Koalitionsvereinbarungen im Gesundheitsbereich sind die Gesundheitskonferenzen. Auf Bezirksebene sind bislang in Tiergarten, im Wedding und in Kreuzberg Initiativen ergriffen worden. Alles was dort diskutiert und gefordert wird, soll letztlich in einer Landesgesundheitskonferenz zusammengetragen werden. Wann wird es die geben?

Wir sind bei der Planung und sind in Gesprächen mit den Trägern, Verbänden und Einrichtungen, die daran teilnehmen müßten. Nun gibt es da einige, die dafür wichtig sind, die nicht so recht wollen...

Zum Beispiel?

Darüber möchte ich im Interesse der Verhandlungen nicht so laut reden.

Nun weiß jeder, daß die Krankenkassen der Auffassung sind, es gebe bereits genug Verhandlungsgremien. Wie wollen Sie die an den Konferenztisch kriegen?

Durch weitere Gespräche eben. Ich kann sie ja nicht zwingen. Dabei ist mehr Verständigung unbedingt notwendig. Zum Beispiel bei den Pflegesatzverhandlungen. Bei einer ÖTV -Veranstaltung ist nochmal klar geworden, daß die Krankenkassenvertreter bei ihren Pflegesatzverhandlungen nie unmittelbare Berichte vom Pflegepersonal bekommen. Die verhandeln immer nur mit den Verwaltungsleitern. Das möchte ich in Zukunft ändern. Das Pflegepersonal soll bei diesen Verhandlungen beteiligt werden.

Wie stellen Sie sich, als Sozial-und Gesundheitssenatorin, diese Stadt in fünf Jahren vor?

Wesentliche Grundlage meiner Vision ist natürlich die Öffnung der DDR. Alles, was wir hier an Wissenschafts- und an Kultureinrichtungen haben, wird im Wettbewerb, aber auch in Verständigung mit den entsprechenden Einrichtungen in Ost -Berlin stehen. Was den Sozial- und Gesundheitsbereich betrifft, so hoffe ich, daß sich eine Gesundheitspolitik, die sich mehr an der Vorsorge des Einzelnen und auch an den Umweltbedingungen orientiert, erheblich vorangekommen ist. Das Bewußtsein in der Bevölkerung ist mittlerweile weiter denn je. Wir können jetzt ganz andere Bereiche angehen - zum Beispiel den Arbeitsschutz. Wie können wir verhindern, daß soviele Menschen durch die Arbeitsbedingungen so kaputt gemacht werden, daß die Gesundheitspolitik nur noch Reparaturinstanz ist, die einen Menschen notdürftig zusammenflickt. Ich hoffe, daß die Lebensqualität im Alter nach der Arbeitsphase erheblich besser wird. Was die Sozialpolitik betrifft, so ist da die Hoffnung, daß Sozialhilfe nur noch als Ausfallbürgschaft in ganz besonders extremen Notsituationen gebraucht wird. Statt dessen müssen wir einer Grundsicherung für Alte, Behinderte und Arbeitslose in fünf Jahren näher gekommen sein, als wir es jetzt sind. Das Gespräch führten Andrea Böh

und Martina Habersetze