Kommt doch rüber!

Das Ende der Mauerstadt  ■ K O M M E N T A R

Die Mauer fällt. Die deutsch-deutsche Paralyse verliert ihr Symbol, die geteilte Stadt das Mal ihrer historischen Verantwortung. Die Menschen in beiden Teilen der Stadt verlieren - auf je unterschiedliche Weise - ein zur Normalität gewordenes Trauma. Was eine ganze westliche Politikergeneration stereotyp, weil ohne Aussicht auf Realisierung, seit 28 Jahren gefordert hat, ist mit der schlicht-bürokratischen Erklärung des Ministerrats von gestern abend Realität. Die Mauer - so hatten ihre Verteidiger bis vor kurzem behauptet - besteht so lange, wie die Voraussetzungen, die zu ihrer Errichtung führten. Voila

-Geschichte wird gemacht.

Der Fall der Mauer ist das Eingeständnis einer gescheiterten Politik, die ihre abstruse Konzeption mit unmenschlicher Konsequenz gegen die Normalität verteidigte. Der Wunsch, vom einen Ende der Brunnenstraße zum anderen zu gelangen, wurde mit dem Tod bedroht - und geahndet. Es wird eine Weile dauern, bis wir begriffen haben, daß dies seit gestern abend Vergangenheit ist. Es wird nicht mehr geschossen - es darf gereist werden.

Eine deutsche Abstrusität war nicht nur die Teilung der Stadt und die Konsequenz, mit der sie seit 1961 exekutiert wurde. Zur deutschen Abstrusität zählt auch, daß - obwohl ihr Fall sich abzeichnete - die Stadt sich von der Vorstellung nicht faszinieren ließ. Es gehört zur westdeutschen, speziell Westberliner Verfassung, daß die greifbare Nähe des Traums kaum registriert wurde. Den Inbegriff dieses Defizits an Vorstellungskraft markierte noch am Abend - von der Nachricht kalt erwischt - der Regierende (West): Mit unbewegter Miene verkündet er seine Freude in die Kamera. Die Vorstellung, daß keine Vorbereitungen getroffen sind für den erwarteten Ansturm von nebenan, von um die Ecke, treibt ihm den Schweiß auf die Stirn.

Man kann nur hoffen, daß Berlin bis heute morgen zu begreifen beginnt, was jenseits der absehbaren Folgen, die das west-östliche Wohlstandsgefälle für den saturierten Teil der Stadt mit sich bringen wird, gestern abend passiert ist: Berlin ist nicht länger der Ort, an dem die Inhumanität der Blockkonfrontation ungläubig-gierig bestaunt, verinnerlicht oder erlitten werden muß. Berlin ist nicht mehr Frontstadt. Es darf gefeiert werden sekt-orenübergreifend.

Matthias Geis