Verlassene Idyllen, entlarvte Illusionen

■ Michael Krügers Gedichtband „Idyllen und Illusionen“

In einem Gedicht der siebziger Jahre, lange vor der „Sonettenwut“ eines Wolf Wondratschek oder den Reimspielereien Ulla Hahns, vermerkte der Lyriker Michael Krüger mit verhaltenem Spott das saisonale Formstreben eines dichtenden Zeitgenossen, der, eine Sonnenbrille im Gesicht, „das Sonett wiederbeleben“ mochte „in diesem Winter“ („Mal sehen, sagt er, / ob die alte Form noch trägt“). Ist der Spötter nun selbst, wenngleich mit Verspätung, von jener nachgerade modischen Strömung in der Lyrik eingeholt worden, die den Schritt zurück hinter die Errungenschaften der lyrischen Moderne mit ihrer Befreiung des Gedichts von ausgeleierten Formkonventionen und verstaubten Regelzwängen als neuesten Chic, als einen Akt avantgardistischer Kühnheit gar verkaufen wollte?

Krügers neuer Gedichtband jedenfalls verwendet durchgängig und, wie auf dem rückseitigen Buchdeckel zu lesen ist, ganz „bewußt diese altmodische Form des Elfzeilers“, wenngleich er auf Formelemente wie Reim und streng durchgehaltenes Metrum verzichtet - die alternierenden Versmaße, die er über weite Strecken bevorzugt, wirken keineswegs bemüht, eher wie das natürliche Bett eines unangestrengten Redeflusses, der sich bisweilen zu Strudeln und Schnellen verdichtet. Nun könnte die Wahl des Elfzeilers auf den ersten Blick beliebig, seine durchgängige Verwendung pedantisch erscheinen. Gleichwohl handelt es sich bei Krügers Formexperiment nicht um naiv-unbekümmertes Spielen mit formalen Mitteln wie bei so vielen neueren Lyrikern. Vielmehr klingt schon zu Beginn des Bandes der heimliche Selbstzweifel des Autors an seinem Unterfangen an - in einer Anrede an das Gedicht selbst: „In schrägern Lettern steht / an deiner Tür: Dies ist ein Kartenhaus. / Wer eintritt, wird begraben. Du siehst das Zittern / unter meinem Auge, wenn ich auf Dauer schwöre.“ Im selben Gedicht heißt es: „Wo andere die Form verherrlichen, sagst du: / nur Reste.“ Ironischerweise tönt hier der Zweifel an der Form aus dem Inneren einer - sehr markanten - Form selber. Es ist aber genau dieses ironische Bewußtsein des Autors, in der überkommenen Form nurmehr ein anachronistisches Überbleibsel, einen kärglichen Rest zu besitzen, was ihn vor modischer Attitüde bewahrt. Krügers Souveränität im Formalen bewährt sich gerade darin, daß die gewählte Form den Inhalten sich nirgends selbstgefällig aufzwingt, sondern ihnen, wie ein schützendes Gehäuse, Zuflucht und Asyl gewährt - das „Kartenhaus“ erweist sich als erstaunlich stabil.

Man wird den kräftigen Schuß (Selbst-)Ironie nicht überhören, der dem Titel des Bandes beigemischt ist: Idyllen und Illusionen. Denn die Idylle ist bei Krüger immer schon als Illusion durchschaut - Idyllen und andere Illusionen sind mit dem Titel gemeint. Wo wirklich einmal der Wille zu ungebrochener Vergegenwärtigung idyllischer Szenerie erkennbar ist, ist die (Märchen-)Idylle verlassen, ausgestorben: „an leeren Dörfern vorbei mit Kletterrosen / über Türlauben und Fensterstürzen, wo Moose / die Dächer teppichartig überkriechen. (...) Keine Menschen weit und breit.“ Und Illusionen? „Du selbst / bist nichts mit deinen Illusionen“, heißt es an einer Stelle. Krügers Gedichten eignet, im Gegenteil, eine gründliche Desillusioniertheit: über die Geschichte (die an einer Stelle mit Naturgeschichte parallelisiert wird, dem „mahlenden Knirschen des Kosmos“) nicht weniger als über die Gegenwart mit ihren unheilvollen Potentialen - in nüchterner und gerade deshalb schockhaft wirkender Konkretion führt beispielsweise ein Gedicht die seltsamen Auswüchse einer durch die Wirkungen der Chemie veränderten Pflanzenwelt vor Augen - und ihrer Ordnungswut, die bis in die intimsten Lebensbereiche vordringt: „Nun auch die Liebe in der Hand / von Bürokraten, die sie schamlos ordnen.“

Wo unsere Wahrnehmung die Dinge durch das Raster eingeschliffener, starrer Denkschemata perzipiert, beseelt Krügers Gedichte ein Verlangen nach sinnlich-unmittelbarer Erfahrung, glücklicher Nähe zu den Dingen, gerade auch den kleinen, unscheinbaren. „Hinaus in den Regen, die Schuppen von den Augen / gespült. Laß die Katze zurück, das Wissen, die Bücher, / eingezwingert in Erinnerung und Staub“, setzt eines der Gedichte ein. Sinnlich, plastisch-mimetisch, den Gegenständen dicht sich anschmiegend, kann ihre Sprache heißen. Und doch wissen diese Gedichte zugleich um den Rückzug der „sprachlosen Welt“, das Entgleiten der Dinge, die nur befreit von unserer Wahrnehmung zu eigentlichem Leben erwachen: „Der See versinkt in Dämmerungen, / die, regenschwer, die Landschaft zwingen, / sich zu verbergen. Die Dinge atmen auf.“ In unserer geschwätzigen Zeit „igeln“ die Bilder „sich ein, / übermüdet von Schrift wie alles, / was uns beeindrucken wollte. / Nur wir reden weiter, reden uns / durch den Schlaf auf die Höhe der Zeit, / wo die Texte verschwinden im Staub.“ Das Bild der verlöschenden Schrift, Chiffre für das Bedeutungsloswerden von Literatur im Zeitalter medialer sogenannter Kommunikation wie für das Verschwinden von Bedeutung im Postmodernismus, kehrt mehrfach in dem Band wieder. Krüger schreibt mit seinen Gedichten gegen dieses Verschwinden an, illusionslos zwar und mit einem Pathos an Nüchternheit, das seiner lyrischen Sprache von jeher eignet. Dabei liegt Bedeutung in diesen Gedichten selber keineswegs bequem zutage. Nicht wenige der Elfzeiler wirken hermetisch in sich selbst verschlossen, spröde gegen eilfertiges Verstehen - eine Herausforderung für literarische Fährtenleser und Rätselfreunde!

Hans-Dieter Fronz

Michael Krüger: Idyllen und Illusionen. Tagebuchgedichte. Verlag Klaus Wagenbach, 74 Seiten, 17,80 DM