Landbesetzung in Sao Paulo

■ Steigende Mieten führen zu massenhafter Obdachlosigkeit / In Brasiliens Metropole haben sich Zehntausende in der "Städtischen Bewegung der Landlosen" organisiert / Bischofskonferenz fordert Agrarreform...

Es gibt in Brasilien eine riesige Wüste, schön wie alle Wüsten, doch ist sie auf keiner Landkarte verzeichnet. Man muß in den 42. Stock fahren, um sie zu entdecken. Dort, vom Restaurant „Terraco Italia“ aus, im Zentrum von Sao Paulo, sieht man sie, soweit das Auge reicht, türmen sich riesige Steinmassen zu Bürotürmen, Bankpalästen und Wolkenkratzern auf. Ein phantastisches Gemälde, auf dem es keine Farbe gibt, die auch nur entfernt an Grün erinnert. Bis zum Horizont, der sich irgendwo im graubraunen Smog verliert, alles zugebaut. - Nein, nicht alles, denn keine acht Kilometer von der Kathedrale in der Innenstadt entfernt und damit noch relativ zentral gelegen, irgendwo da unten, zwischen den Steinkolossen, gibt es ein großes Stück unbebautes Land. Mindestens 1.500 bis 2.000 kleine Häuser könnte man hier schon bauen, finden die 150 Menschen, die das Terrain am Donnerstag vergangenener Woche besetzt haben. Am Freitag sind es bereits etwa 1.500 Kinder, Frauen und Männer, die alle dem „Movimento sem terra urbano“, der „Städtischen Bewegung der Landlosen“, angehören. Aus Plastik, Wolldecken und Pappe bauen sie einfache Unterstände. Eine Küche und eine provisorische Krankenstation sind bereits eingerichtet.

Das brachliegende Land gehört der „Caixa economica federal“, der Bundessparkasse, die im über tausend Kilometer entfernten Brasilia ihren Hauptsitz hat. „Dort waren wir schon“, erzählt Eremina, zwei Gören an der Hand. „Man hat uns eine Audienz gewährt. Das war alles.“ Ob die Militärpolizei das Gelände morgen schon räumen wird, wissen die Besetzer nicht. Aber vielleicht haben sie Glück und die „Caixa“ läßt sich auf Verhandlungen mit ihnen ein.

„Meistens wird früher oder später geräumt“, meint Padre Alfredo Goncalves vom „Cem“, einem Studienzentrum des theologischen Seminars „Johannes XXIII.“, das sich mit Migrationsfragen befaßt und mit der städtischen Landlosenbewegung zusammenarbeitet. Jeden Tag kommen etwa 700 Migranten, vor allem aus dem Nordosten, dem Armenhaus Brasiliens, in der 15-Millionen-Stadt Sao Paulo an. Doch nicht sie sind es, die sich in der Landlosenbewegung organisieren. Die Neuankömmlinge finden in der Regel erst mal bei Verwandten Unterschlupf.

Das Scheitern des „Cruzado-Plans“

Es gibt im Großraum Sao Paulo eine innerstädtische Migration, die mit dem Zusammenbruch des „Cruzado-Plans“ riesige Ausmaße angenommen hat. Mit einer Währungsreform und rigiden wirtschaftspolitischen Maßnahmen war es Präsident Sarney 1985 zwar gelungen, den rasanten Preisanstieg und den Verfall der Währung zu bremsen, doch ein Jahr später schlug die Inflation um so massiver durch. Auf den Preisschildern mehrten sich die Nullen, und die Mieten stiegen in kürzester Zeit um ein Vielfaches. Zehntausende, wenn nicht sogar Hunderttausende von Menschen mußten ihre Wohnungen räumen. Die städtischen Landlosen, die sich 1984 in kleinen Zirkeln organisiert hatten, bekamen nun massiven Zulauf. Allein 1987 besetzten 22.000 Familien 328 Landstücke, 2,4 Millionen Quadratmeter insgesamt, manchmal am Rand der Innenstadt, öfter aber an der Peripherie, vor allem im Osten von Sao Paulo, wo sich die Stadt immer schneller ins Land hineinfrißt, dort, wo sich kaum einer der 40.000 Taxifahrer Sao Paulos mehr auskennt. Jedes Jahr kommt in dieser monströsen Metropole ein neuer Stadtplan heraus - mit 1.500 neuen Straßen.

Als über 5.100 in der Bewegung der Landlosen organisierte Familien im Januar 1988 gemeinsam eine „Fazenda“ am Stadtrand besetzten, machten sich auch die Soziologen an die Arbeit. Ihr Befund: Von den Landbesetzern hatten die meisten, 63 Prozent, vorher zur Miete gewohnt, 22 Prozent kamen aus den „Favelas“, den aus Bretterbuden bestehenden Elendsvierteln und zehn Prozent waren zuvor bei Verwandten oder Freunden untergekommen. Zudem stellten sie fest, daß 47 Familien innerhalb eines einzigen Monats bereits sechs Mal einer Räumung hatten weichen müssen.

Urbanisierung

der „Favelas“?

Die Landbesetzungen in der Stadt wurden immer häufiger und immer häufiger wurde auch der Einsatz der Militärpolizei, bis ein politisches Ereignis diese Dynamik bremste: Im November vergangenen Jahres wurde Luisa Erundina, Kandidatin der linkssozialistischen „Arbeiterpartei“ (PT), zur Bürgermeisterin der größten Stadt Südamerikas gewählt. Die streitbare Frau, siebtes Kind einer armen Bauernfamilie aus dem Nordosten, hat jahrelang als Sozialarbeiterin in den „Favelas“ gearbeitet. Als Bürgermeisterin scheute sie sich nicht, im vergangenen Juni zu einer Demonstration vor dem Sitz der „Caixa Economica Federal“ in Sao Paulo aufzurufen, um die Bundesgelder für den Wohnungsbau, die über diese Institution verteilt werden, loszueisen. „Besetzung ist immer nur die Ultima Ration“, hatte Padre Alfredo Goncalves gesagt. In der Tat versucht die neue Stadtregierung Lösungen zu finden, wo immer es möglich ist. In San Miguel, im Osten der Stadt, stellte sie 2.500 Familien Land und Baumaterial zur Verfügung. Und während der alte Bürgermeister Janio Quadros auf eine „Favela„-freie Innenstadt hinarbeitete und ganze Armensiedlungen einfach abreißen ließ, will Luisa Erundina die „Favelas“ urbanisieren. Aus Bretterbuden sollen stabile kleine Häuser werden, ohne daß die Leute ausziehen müssen.

Doch in den „Favelas“ von Sao Paulo wohnen immerhin 900.000 Menschen und an die drei Millionen leben, kaum besser untergebracht, in den sogenannten „Curticos“, den „Bienenstöcken“. So sehen diese Wohngebiete auch aus: kleine, verschachtelte, flache Hinterhofsiedlungen, in denen die Leute zu Wuchermieten auf engstem Raum zusammen leben. Die jetzige Stadtverwaltung wird nicht viel mehr zusätzlichen Wohnraum schaffen können als die alte. Doch der soll - im Gegensatz zu früher - den Leuten der untersten Einkommensschichten angeboten werden, erläutert Miguel Reis Afonso. Der PT-Mann steht der „Cohab“ vor, der Behörde für den städtischen Wohnungsbau. In ihrem Bulletin fordert diese die Leser auf, sich im Bedarfsfall der radikalen „Bewegung der Landlosen“ anzuschließen, und nennt auch gleich die Kontaktpersonen und deren Telefonnummern.

Die „Bewegung der Landlosen“ wächst

An die 30.000 Familien haben sich der „Bewegung der Landlosen“ allein im Ostteil der Stadt angeschlossen. Wer sich organisiert und kämpft, hat bessere Chancen, in irgendeiner nahen oder fernen Zukunft bei der Zuteilung von Wohnungen durch die neue Stadtverwaltung berücksichtigt zu werden. Antonio Luiz Marchioni, alias Padre Ticao (Pater Feuerbrand), der seit sieben Jahren in den Armenvierteln Sao Paulos an vorderster Front seinen Dienst verrichtet, findet das selbstverständlich. „Consciencao“ steht denn auch im Mittelpunkt seiner Arbeit, Bewußtseinsbildung oder „Überwindung der religiösen Ignoranz“, wie sich der Kirchenmann salopp ausdrückt. „Die Leute müssen sich organisieren und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Die Kirche muß ihnen dabei helfen.“

Padre Ticao zu treffen, war nicht gerade einfach. Der Mann ist permanent auf Achse. Irgendwie, fast zufällig, klappt es dann doch: „Komm einfach mit“, - und schon flitzt er zur nächsten „Favela“, im Auto ein kurzes Gespräch über die brasilianische Kirche, über Gewalt und Drogen in den Armenvierteln, über die 20 Polizisten, die im Bundesstaat Sao Paulo wöchentlich wegen Verwicklung in kriminelle Aktionen belangt werden. Aber wir sind schon angekommen. Am Rand einer „Favela“ haben sich ein paar hundert Landlose versammelt, weil die Bürgermeisterin erwartet wird. Doch die kommt nicht, ist leider unabkömmlich. Statt dessen tritt der Padre ans Mikrophon und fordert die Leute in einer fulminanten Rede auf, am 15. November, bei der ersten direkten Präsidentschaftswahl seit 29 Jahren ihre Stimme nur jemandem zu geben, der sich für die Landlosen einsetzt, jemandem, der „aus dem Volk“ kommt. Er braucht den Namen nicht zu nennen. Doch jeder hier weiß, daß nur die PT die Landlosenbewegung vorbehaltlos unterstützt, daß nur der ehemalige Metaller Lula, Kandidat der PT, „aus dem Volk“ kommt.

Die Kriterien des Bischofs

Am Abend führt Padre Ticao in San Miguel (Sao Paulo) auf einer Versammlung von 200 Delegierten der Landlosenbewegung den Vorsitz. Als Gast wird Don Fernando erwartet, der Bischof der Diözese, die mit 2,5 Millionen Einwohnern die größte Brasiliens ist. Am Eingang des Versammlungsraums liegt ein Faltblatt aus. Auf der ersten Seite ein Brief von Don Fernando an „das Volk Gottes“. „Viele Fragen sich, nach welchen Kriterien soll ich den Präsidenten der Republik wählen“, schreibt der Würdenträger, und weiter: „Die Kirche hat keine Partei und keine Kandidaten.“ Doch dann benennt er acht Kriterien, auf die sich die brasilianische Bischofskonferenz jüngst geeinigt hat: unter anderem genießt das Vertrauen der Kirche nur, wer „für eine effiziente und gerechte Agrarreform“ eintritt, wer „die Organisierung der Arbeiter in Gewerkschaften und Mitbestimmung in den Betrieben fördert“ und wer sich „für eine öffentliche Debatte über die Auslandsschuld einsetzt“.

„Die Präsidentschaftskandidaten lassen sich in drei Gruppen aufteilen“, heißt es in einem weiteren Beitrag des von der Diözese herausgegebenen Faltblattes. „Zum ersten Block gehören diejenigen, die die Interessen der Mächtigen, der Industriellen, der Bankiers und der Latifundisten verteidigen. Politiker, die diese Interessen vertreten, werden beispielsweise gegen die Agrarreform stimmen...“ Und dann werden sie namentlich aufgeführt: Aurelio Chaves von der PFL, der Partei Sarneys („Er hat den Militärputsch von 1964 unterstützt.“), Paulo Maluf von der PSD („Er war immer ein Freund der Militärs.“). Auch der rechte Fernando Collor, bislang aussichtsreichster Kandidat, wird diesem Block zugeordnet. Den „zweiten Block“ bilden, so der Artikel im kirchlichen Faltblatt, die Politiker, die „manchmal auf der Seite der Arbeitenden stehen und manchmal die Interessen der Mächtigen vertreten“. In diese Kategorie wird explizit der linke Populist Brizola eingeordnet und der Sozialdemokrat Covas. Zum „dritten Block“ schließlich gehören diejenigen, die „die Interessen der Mittelschicht und der Armen verteidigen und in der verfassungsgebenden Versammlung für die Agrarreform gestimmt haben“. Es sind - ausdrücklich genannt - die Kommunisten, die Grünen und die „Arbeiterpartei“ Lulas.

Schließlich trifft der hohe Gast ein. Unter dem Applaus der Landlosen tritt er ans Mikrophon und beginnt: „Jesus wurde in ärmlichen Verhältnissen geboren, aber er hatte ein Dach über dem Kopf...“