Viele Sterne glänzen an Brasiliens Himmel

Am 15.November wählt das größte Land Lateinamerikas zum ersten Mal seit 29 Jahren in Direktwahl einen Präsidenten / Aussichtsreichste Kandidaten: ein rechter Yuppie, ein linker Arbeiterführer, ein Populist und ein Showmaster / Zweiter Wahlgang im Dezember wahrscheinlich  ■  Aus Sao Paulo Thomas Schmid

Joao Neto versteht die Welt nicht mehr. „Überall geht der Kommunismus zu Ende“, stellt der Mann vom Telexamt fest, „und in Brasilien will man ihn einführen.“ Daß mit einem Wahlsieg Lulas, des Kandidaten der „Arbeiterpartei“ (PT), am 15.November der Kommunismus ins Haus steht, daran zweifelt er nicht, und wenn der Populist Brizola, Kandidat der PDT (Demokratische Arbeiterpartei), die seit März dieses Jahres der Sozialistischen Internationale angehört, gewinnt, erwartet er bestenfalls eine weichere Variante des Übels.

Collor, der rechte Yuppie

Doch so weit ist es noch lange nicht. Noch liegt allen Meinungsumfragen zufolge ein anderer bei den ersten direkten Präsidentschaftswahlen seit 1960 ganz vorne: Fernando Collor de Mello, der knapp 40jährige Gouverneur des kleinen Bundesstaates Alagoas hat zwei Trümpfe: Er ist ein ausgesprochen hübscher Mann von jugendlicher Vitalität - und er hat einen alten Sponsor: Der 84jährige Roberto Marinho, Besitzer einer Tageszeitung mit einer halben Million Auflage, von 18 Radiostationen und vor allem von 'TV Globo‘, nach den US-Networks CBS, ABC und NBC die viertgrößte Senderkette der Welt, hat den Newcomer regelrecht aufgebaut.

Collor, Typ Yuppie, hat sich erfolgreich das Image eines Maharadscha-Jägers zugelegt. Als „Maharadschas“ gelten in Brasilien die zahlreichen Inhaber hoher politischer Ämter, die ganz nebenbei noch als Institutsdirektoren, Professoren oder Verwaltungschefs saftige Zweit-, Dritt- und Viertgehälter abkassieren, ohne je auch nur den Fuß in ein Institut, eine Universität oder ein Verwaltungsgebäude gesetzt zu haben.

Daß Collor als Gouverneur in seinem eigenen Bundesstaat die Maharadschas nicht verjagt hat, ganz im Gegenteil, fällt bei so viel Imagepflege kaum mehr auf. Daß er während der Militärdiktatur (1964 bis 1985) deren Regierungspartei Arena beitrat, scheint heute ebenfalls längst vergessen.

Als Mitglied des Wahlkollegiums, das nach der Abdankung der Diktatur den Präsidenten zu bestimmen hatte, unterstützte er noch 1985 Paulo Maluf, den zivilen Kandidaten der Militärs, gegen den Liberalen Tancredo Neves, der die Wahl aber dann doch gewann. Danach lief Collor endgültig zur Demokratie über. Im März dieses Jahres gründete er seine Partei des Nationalen Wiederaufbaus (PRN).

Wie Collor seinen Stern

zum Steigen bringt

Collor, der Kandidat der modernen Rechten, der landauf, landab ein „neues Brasilien mit weniger Ungleichheiten“ verspricht, wird Meinungsumfragen zufolge überdurchschnittlich viele Stimmen bei Bürgern mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungsniveau gewinnen.

Er führt wohl mit Abstand den teuersten Wahlkampf. Die 5.000 Sandwiches, die er - nach vorheriger Ankündigung in der Zeitung - bei einer Wahlveranstaltung in Novo Hamburgo verteilte, fallen selbstredend nicht ins Gewicht, eher hingegen, daß er in die 100.000-Einwohner-Stadt Teofilo Otoni mit einem Geschwader von elf Maschinen einflog. 50.000 Dollar wird er in den letzten beiden Wochen vor dem ersten Urnengang allein an Hotelkosten ausgeben - für sich und seine Schar von Journalisten, Technikern und Leibwächtern.

Letztere dürfen neuerdings auf Beschluß des Wahlrates aus Sicherheitsgründen keine Waffen mehr tragen. Denn im brasilianischen Wahlkampf kommt es immer wieder zu tätlichen Auseinandersetzungen. In der Hauptstadt Brasilia hat Collor einmal sogar selbst zugeschlagen - schließlich ist er ehemaliger brasilianischer Karatemeister. Sein Vater hat übrigens als Senator einen Amtskollegen im Senat mit dem Revolver erschossen - ein Mann der Tat, wie sein Sprößling auch.

Meinungsumfragen zufolge hätten noch vor zwei Monaten 40 Prozent der Brasilianer Collor ihre Stimme gegeben. Heute ist sein Stern auf 21 Prozent gesunken. Damit liegt er allerdings immer noch deutlich vor Lula, der mit 14 Prozent den zweiten Platz hält, knapp gefolgt von Brizola, der nur ein Prozent zurückliegt.

Lula, der Ex-Proletarier

Der 44jährige Lula ist wie Collor Vertreter einer neuen Generation von Politikern. Der aus äußerst armen Verhältnissen stammende ehemalige Metallarbeiter, der 1978 den ersten großen Streik gegen die Diktatur organisierte, dann festgenommen und auf Intervention des Arbeitsministeriums aus der Gewerkschaft ausgeschlossen wurde, zog 1986 als Abgeordneter mit den meisten Stimmen ins neue Parlament ein.

Lulas PT, die sich mit zwei kleinen Parteien, der kommunistischen „PC do B“ und der sozialistischen PSB in einer „Volksfront“ zusammengeschlossen hat, ist mit etwa 400.000 Mitgliedern nicht nur die größte Partei des Landes, sie ist auch eine der ganz wenigen, die diesen Namen verdient. Die anderen Parteien sind oft eher Honoratiorenzirkel oder Sprungbretter für Pöstchenjäger, und ihre Programme sind mitunter das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Kein Wunder also, daß viele Politiker die Parteien wie ihre Hemden wechseln, ohne daß dies ihrer Karriere Abbruch täte.

Die PT hingegen - linkssozialistisch und basisorientiert hat ein klares Programm: An erster Stelle steht die Agrarreform. Diese längst überfällige Reform ist in Brasilien die wichtigste Voraussetzung für mehr soziale Gerechtigkeit, und ohne sie werden die gigantischen Städte zu noch größeren Monstren anwachsen.

Und vor allem: die PT meint es ernst mit ihrem Programm. Das wissen nicht nur ihre Anhänger, die vor allem im Industriedreieck von Sao Paulo, in den etwa 150.000 sozial -engagierten Basisgemeinden der progressiven katholischen Kirche, in der schnell anwachsenden radikalen „Bewegung der Landlosen“ und unter den Intellektuellen zu finden sind. Selbst zwei Bischöfe haben sich bereits öffentlich für den Kandidaten Lula ausgesprochen.

Wie Lulas Stern

noch fallen könnte

Der Chef des mächtigen Industriellenverbandes von Sao Paulo (FIESP), Mario Amato, hat bereits angedroht, daß 800.000 Unternehmer im Falle eines Wahlsieges von Lula das Land verlassen werden. Das ist sicher arg übertrieben, doch würde ein Wahlsieg der Linken zweifellos eine massive Kapitalflucht auslösen.

Immer wieder taucht in Brasilien die Befürchtung auf, die Militärs würden einen Wahlsieg Lulas nicht hinnehmen. Das liberale 'Folha de Sao Paulo‘, das als angesehenstes Blatt im Land gilt, hat dem Thema kürzlich eine ganze Seite gewidmet und kam zu dem Schluß, daß die Militärs einen Lula als Präsidenten wohl akzeptieren würden. Aber wie lange?

Die Militärs, die noch in den letzten Jahren wiederholt mit der Möglichkeit eines Putsches gespielt haben und zur Zeit mit sechs Ministern im Kabinett vertreten sind, halten sich aus dem Wahlkampf weitgehend heraus. Daß keine wichtige politische Entscheidung der brasilianischen Politik gegen den Willen der Militärs getroffen wird, daran zweifelt hier niemand.

Lula, gegen den bisher kaum mehr als billige Polemik vorgetragen wurde, gerät nun in der Endphase des Wahlkampfes unversehens doch noch unter ernsthaften Beschuß: Sao Paulo, mit 15 Millionen Einwohnern die größte Stadt Südamerikas, wird nämlich seit einem Jahr von seiner Partei, der PT, regiert. Drei Wochen vor den Wahlen wird nun plötzlich der Stadtverwaltung vorgeworfen, von einer Baufirma umgerechnet 260.000 Mark für die Vergabe von Aufträgen eingeheimst und diese zur Finanzierung von Lulas Wahlkampagne verwendet zu haben. Der Vizebürgermeister behauptet, das Angebot der Firma abgelehnt zu haben, doch hat er zumindest deren Bestechungsversuch nicht öffentlich gemacht. Fest steht auch, daß die Baufirma einen Scheck in der genannten Höhe an eine Scheinfirma überwiesen hat, von dem niemand weiß, wo er abgeblieben ist.

Der Skandal könnte dem Ruf der PT, eine andere, eine ehrliche, nicht korrumpierbare Partei zu sein, nachhaltig schaden, Lula entscheidende Stimmen kosten und ihn für den zweiten Wahlgang disqualifizieren. Falls im ersten Wahlgang am 15.November nämlich kein Kandidat die absolute Mehrheit gewinnt, wird - nach französischem Vorbild - ein Monat später in einer zweiten Runde unter den beiden Bestplazierten entschieden.

Brizola, der linke Candillo

Anwärter auf diese zweite Runde ist auch ein alter Hase der brasilianischen Politik: Brizola, Ex-Gouverneur der Staaten Rio Grande do Sul und Rio de Janeiro. Der linke Populist hat vor allem in der Stadt am Zuckerhut eine starke Basis, wo er durch die Einführung von Ganztagsschulen - einschließlich kostenloser Verpflegung der Kinder - die Sympathien breiter Bevölkerungskreise gewann. Brizola ist zudem traditionell ein Intimfeind der Militärs, deren Machtübernahme er 1961 verhindern half. Während der Diktatur lebte er im Exil.

...und einige kleinere Sterne

Deutlich abgehängt - in den Meinungsumfragen traut man ihm ganze neun Prozent zu - kandidiert Mario Covas für die sozialdemokratische PSDB. Er findet vor allem beim progressiven Mittelstand und auch im gehobenen Klerus Unterstützung.

Weitere 17 Kandidaten wird man wohl unter „ferner liefen“ verbuchen können, unter ihnen Paulo Maluf von der militärfreundlichen PDS (in Meinungsumfragen sieben Prozent), Ulysses Guimaraes von der mitregierenden Zentrumspartei PMDB (vier Prozent) sowie auch der Parteichef der Grünen, Fernando Gabeira. Der Ex-Guerillero hat die eigene Kandidatur angemeldet, nachdem er nicht Lulas Vize werden durfte. Carlos Minc, während des Wahlkampfes anstelle von Gabeira amtierender Präsident der grünen Partei, gab am Sonntag seine Unterstützung für Lula bekannt.

Im Dezember wird also aller Voraussicht nach der rechte Yuppie Collor im zweiten Wahlgang gegen den linken Arbeiter Lula oder den linken Caudillo Brizola antreten.

Last but not least:

ein TV-Star

Nur einer könnte Collor noch aus dem Rennen werfen: Silvio Santos. Der Besitzer und äußerst populäre Showmaster von SBT, dem zweitgrößten Fernsehsender des Landes, hat den Ruf erst vor zwei Wochen gehört: „Etwas in mir sagt, daß ich Präsident werden muß“, erklärte er dem Fernsehpublikum nach einem Treffen mit Innenminister Joao Alves.

Kurz danach gab er bekannt, daß Aureliano Chavez, Kandidat der PFL von Präsident Sarney und unter der Militärdiktatur Vizepräsident, zu seinen Gunsten verzichtet habe.

Parteichef Hugo Napoleao sprach sich ebenfalls dafür aus, den glücklosen Chavez, dem Meinungsumfragen gerade noch ein Prozent der Wählerstimmen voraussagen und der in seiner eigenen Partei kaum noch Unterstützung findet, auszuwechseln. Doch Chavez selbst dementierte jegliche Rückzugsabsichten, er werde bis zur Wahl ausharren.

Damit begann die Odyssee des Silvio Santos durch die bunte Parteienlandschaft Brasiliens. Da die Anmeldefrist der Parteien für die Wahlen längst abgelaufen ist, blieb Santos nichts anderes übrig, als einen der 22 Kandidaten zum Verzicht zu bewegen.

Als erstes klopfte er bei der rechtsliberalen PL an. Doch deren Kandidat, Afif Domingos, Vorsitzender der brasilianischen Handelskammer, wollte nicht aufgeben, obwohl elf der 16 Parlamentsabgeordneten der Partei ihn aufforderten, den Platz für Santos freizumachen.

Es folgten Gespräche mit drei Kleinstparteien, die geneigt waren, ihren Kandidaten zugunsten von Santos zurückzuziehen. Am Dienstag abend schließlich war es soweit: Armando Correa, Chef und Präsidentschaftskandidat der PMB, einer Nullkommanochetwas-Partei, machte seinen Sessel für den frivolen Showmaster und Fernsehmagnaten frei.

Brasilianische

Wahl-Astrologie

Daß die Kandidatur von Silvio Santos - der bislang ohne jedes Programm dasteht und nach Abschluß des Deals mit Correa in einem ersten Interview betonte, daß er von Politik nichts verstehe - von Präsident Sarney eingefädelt wurde, ist in Brasilien ein offenes Geheimnis. Sarneys Überraschungscoup erklärt sich vor allem durch seine persönlichen Aversionen gegen Collor, der ihn, wie alle anderen Kandidaten auch, frontal angreift - schon aus wahltaktischen Gründen. Sarneys Hauptbeschäftigung in seiner vierjährigen Präsidentschaft bestand darin, so frotzelt man in Sao Paulo, Nullen zu streichen. Aus 1.000 Cruzeiros wurde bei einer ersten Währungsreform ein Cruzado, aus tausend Cruzados wurde bei einer zweiten Währungsreform zwei Jahre später ein sogenannter „Neuer Cruzado“.

Nun hat Sarney also endlich einen Kandidaten, der sich öffentlich als Freund des Präsidenten deklariert und der zudem mehr Prozente zu machen verspricht als Chavez, der für die Regierungspartei ins Rennen geht.

Eigentlich dürfte Santos als Leiter eines Unternehmens, das einer staatlichen Konzession bedarf, von Gesetzes wegen nicht kandidieren, ohne diese Position drei Monate vor der Wahl aufgegeben zu haben. Doch wird man wohl einen „jeito“ finden, einen brasilianischen Ausweg, der es dem Wahlrat erlaubt, sein Plazet zu geben. Auch daß die Wahlzettel bereits gedruckt sind, und also Correa ankreuzen muß, wer Santos wählen will, dürfte für den Fernsehstar ein eher kleines Hindernis sein.

Mit der Kandidatur von Santos, dem Meinungsumfragen bislang bis zu 14 Prozent voraussagen, ist der Ausgang des ersten Wahlrennens wieder offen. Es erscheint sogar möglich, daß sich in der zweiten Runde die Kandidaten der Rechten, Collor und Santos, gegenüberstehen.

Rechte Pessimisten allerdings befürchten bereits, daß am 15.November, wenn in Brasilien zum ersten Mal auch die Analphabeten und die Sechzehnjährigen wählen dürfen, Santos seinem rechten Konkurrenten Collor so viele Stimmen abjagt, daß die zweite Runde zwischen Brizola und Lula ausgetragen wird.

Dies ist auch die Angst vieler linker Pessimisten. Denn dann würde wohl Brizola mit den Stimmen der Rechten zum Präsidenten gekürt. Kommt aber Collor in die zweite Runde, so das Kalkül, und träte gegen Lula an, so könnte der populäre Arbeiter mit zahlreichen Stimmen aus dem Lager Brizolas rechnen und vielleicht doch noch einen Sieg davontragen. Eine grauenhafte Perspektive für Joao Neto, den Mann vom Telexamt.