Das Scheitern

Egon Krenz und die Kundgebung der SED-Basis vorm Gebäude des Zentralkomitees  ■ K O M M E N T A R E

Es gibt Augenblicke in der Geschichte, wo alles an einem Individuum, alles an dem einen lösenden, befreienden Wort hängt; Momente, wo der Druck der geschichtlichen Veränderung und die Sehnsucht der Massen Größe und Führungschance anbieten, wo das Richtige zum richtigen Zeitpunkt gesagt werden muß. Egon Krenz hatte gestern abend diesen Augenblick, das heißt genauer: Er hat ihn nur erlitten. Nichts kläglicher als sein Scheitern. - Das Parteivolk hatte sich gestern versammelt, voller Zorn über das Versagen der Führung, voller Wut über die verpaßten Chancen, voller Empörung über die Wendepolitiker; ein Parteivolk, das unüberhörbar - an den Sozialismus glaubt, das aber begriffen hat, daß es nicht mehr um Rettung von Ämtern und Macht geht, sondern um die Rettung der Idee des Sozialismus selbst. Die Menge rief unentwegt nach Egon Krenz. Er kam in dieser historischen Stunde, und übrig blieb ein hilflos mit den Flügeln schlagender Apparatschik, der noch seine eigene Inhaltlosigkeit beklatschte. Ihm fiel nichts anderes ein, als die Leute nach Hause zu schicken.

Diese Kundgebung bewies, daß die Idee des demokratischen Sozialismus nicht nur eine Hilfsformel für den Übergang ist, daß es nicht nur ein Wort darstellt, mit dem man sich für einige Zeit über das Scheitern des Realsozialismus trösten könnte. Es war beeindruckend, mit welcher Vehemenz die Versammelten für diese Idee eintraten. Aber, der Abend zeigte noch etwas anderes: die verlorenen Generationen der SED.

Die SED-Basis ist das erste Opfer der Wende. Die Führung im Kampf um den Machterhalt wirft Ballast ab, den Ballast der Personen, der Ideen, der Programme. Die Demokratisierung der SED, der aufrechte Gang der gedemütigten Parteimitglieder kommt da offensichtlich in die Quere. Wenn die Führung ihre Partei retten wollte, müßte sie als erstes auf den Führungsanspruch der Partei verzichten. Nur als politische Kraft unter anderen Kräften könnte sie sich regenerieren. Aber die Wendepolitiker brauchen jetzt erst recht Unterwerfung. Diese Kundgebung, trotz vieler Hoffnungszeichen, könnte der Anfang des Endes der Partei, und zwar der eines inneren Zersetzungsprozesses sein. Krenz jedenfalls ist für seine Genossen kaum noch Hoffnungsträger, jedenfalls nicht nach diesem Abend.

Klaus Hartung