Ein Politbüro auf Abruf

■ Die jüngsten Machtverschiebungen in der SED-Spitze sind auch nur eine Übergangslösung

Auch eine verjüngte Parteispitze der SED bleibt der unguten Tradition der Honecker-Ära treu: Mit ihren Entscheidungen hinkt auch sie weit hinter der gesellschaftlichen Entwicklung her. Auf jedes Zugeständnis folgen neue Forderungen. Krenz ist mit seiner Rede vor dem ZK weiter als noch vor einer Woche gegangen, aber die Ereignisse haben ihn schon wieder überholt, seine eigene Parteibasis war mit den Entscheidungen unzufrieden, sie will einen Parteitag - mit von unten gewählten Delegierten.

Der Konflikt um die Reichweite des Reformprozesses in der DDR ist mit der Eröffnung der 10. Tagung des ZKs jetzt auch in der SED voll entbrannt. Schon am ersten Tag, der von der Rede des alten und neuen Generalsekretärs und der Wahl der neuen Führungsspitze bestimmt wurde, wiederholte sich eine bestimmende Erfahrung der letzten Wochen: Die Parteiführung bemüht sich, mit ihren Entscheidungen gesellschaftliche Forderungen aufzunehmen, wird aber bei diesem Versuch regelmäßig von der rasanten Entwicklung eingeholt.

Diesmal - und das ist das Neue - kam der Druck, der den im Laufe des Tages gefundenen ZK-Kompromiß sogleich wieder in Frage stellte, von der Parteibasis. Vor dem Tagungsgebäude brachten die Berliner Grundorganisationen ihre weiterreichenden Vorstellungen demonstrativ ins Spiel (siehe Bericht links). Ein Signal des neuen Stils war es sicherlich, daß ZK-Sekretär Schabowski und später auch Krenz spontan zu den Parteimitgliedern sprachen - wenn sie auch die Forderung nach einem vorgezogenen Parteitag nicht beantworten wollten.

Parteikonferenz

noch vor Weihnachten

Gestern dann verkündete die neue Führungsspitze auch in dieser Frage einen Kompromiß: eine Parteikonferenz, die während der Demonstration alternativ gefordert wurde. Sie soll vom 15. bis 17.12. stattfinden.

Der Unterschied zwischen Parteikonferenz und Parteitag ist nicht unwichtig: Die Parteikonferenz, die laut Statut dann einberufen werden kann, wenn weitreichende inhaltliche Kurskorrekturen anstehen, kann kein neues ZK wählen - im Gegensatz zu einem Parteitag, der auch das Statut der Partei abändern kann.

Das Interesse der neugewählten Führung zielt jedoch auf Stabilisierung der neugewählten Führungsmannschaft. Die aber wäre dann hinfällig, wenn ein Parteitag, dessen Delegierte von unten gewählt - die derzeitige Stimmung der Basis transportierten, ihre personellen Vorstellungen einbringen würden.

Vorausgegangen war dem Wahlkompromiß der Rücktritt des gesamten Politbüros, ein bislang einmaliger Vorgang in der Parteigeschichte. Das neue Spitzengremium besteht nur noch aus elf Mitgliedern, bisher waren es 21. Als Begründung für die radikale Schrumpfkur wurden von Schabowski „Arbeitsfähigkeit“ sowie die versprochene Entflechtung von Partei und Staat angegeben.

Einschneidendste und nach den Ereignissen der letzten Wochen zwangsläufige Veränderung ist der fast vollständige Abgang der alten Garde, die bereits vor dem Krieg der KPD angehört hatte und deren politisches Profil gleichermaßen vom antifaschistischen Kampf wie vom Stalinismus geprägt ist.

Neu gewählt wurden sowohl Personen, die sich in den letzten Wochen als Reformer zu profilieren suchten - Krenz, Schabowski, Eberlein -, als auch solche, die sich selbst nach dem Kurswechsel nicht als Neuerer präsentierten. Zu ihnen gehören der bisherige Verteidigungsminister Keßler, der als einziges Mitglied der alten Regierung wieder den Sprung ins Politbüro schaffte.

Auch Hans-Joachim Böhme, der mit 66 Gegenstimmen das schlechteste Ergebnis erreichte, sowie Wolfgang Herger, dem die Polizeieinsätze nach dem 40.Jahrestag in Berlin angelastet werden, gehören zu dieser Gruppe. Böhme bekam allerdings gestern von seiner eigenen Bezirksleitung Halle die rote Karte gezeigt: Mit 64 gegen 4 Stimmen wurde er als Erster Sekretär abgesetzt. Setzt sich der Reformprozeß fort, dann gehört sicherlich auch Herger zu den nächsten Abstiegskandidaten. Schabowski wich jedenfalls auf seiner Pressekonferenz einer kritischen Frage nach Hergers Verantwortung für die Polizeieinsätze aus und lobte statt dessen ungefragt Krenz‘ Eintreten für Gewaltlosigkeit der Staatsorgane.

Führungstroika

Dazu kommt eine Reihe von Politikern, denen man bisher zwar keine Reformambitionen nachsagen kann, die sich aber wohl unter dem Druck der Entwicklung anpassen werden. Als neue Führungstroika gelten jetzt der (einstimmig) wiedergewählte Generalsekretär Egon Krenz, der Berliner SED-Bezirkschef Günter Schabowski und der designierte Regierungschef Hans Modrow, der auch im Bewußtsein der Bevölkerung am ehesten das Profil des Reformers für sich beanspruchen kann. Als SED -Chef von Dresden machte er sich mit der Ablehnung persönlicher Privilegien einen Namen. Er ist zudem nicht durch die Mitgliedschaft im Honecker-Politbüro belastet und stand noch auf dem letzten Plenum unter Honecker im Schußfeld der Kritik. Ihm fällt die Rolle zu, das schlechte Image von Krenz gegenüber der Bevölkerung zu kompensieren und das bislang ärgste Defizit des Kurswechsels - Glaubwürdigkeit - auszugleichen.

Günter Schabowski wiederum ist derjenige, der den Wandel vom Honecker-Mitläufer zum Reformpropagandisten am konsequentesten vollzogen hat. Er traf sich mit Vertretern des Neuen Forums, setzte sich als einer der ersten dem Dialog mit den BürgerInnen aus und scheute sich auch nicht, vor den 500.000 äußerst SED-kritischen Demonstranten auf dem Alexanderplatz für Vertrauen in den neuen Kurs zu werben. Mit der ihm eigenen jovialen Eloquenz könnte er am ehesten die Aufgabe erfüllen, den neuen Kurs ans Volk zu bringen. Schon vor dem Plenum stand er als ZK-Sekretär für Medien und Informationspolitik fest.

Als Reformer kann auch der bisher als stellvertretender Kulturminister agierende Klaus Höpcke gelten. Für ihn wurde eigens eine Sonderkonstruktion eingeführt, um ihn als Nicht -ZK-Mitglied dennoch in die Führungsspitze zu wählen. Er wird faktisch die Funktion eines ZK-Sekretärs für Kultur begleiten. Höpcke, der in den 70er Jahren die repressive Wende der Kulturpolitik mittrug, stand noch in diesem Frühjahr kurz vor dem Sturz. Er hatte eine Solidaritätserklärung des PEN-Zentrums der DDR für Vaclav Havel unterstützt.

Trotz solcher Einsprengsel hat es das ZK versäumt, für den neuen Kurs deutliche personelle Zeichen zu setzen. Das sagt nicht zwangsläufig etwas über die künftigen Mehrheitsverhältnisse im höchsten Entscheidungsgremium. Eine Erklärung für die personellen Kompromisse liegt möglicherweise auch schlicht darin, daß das derzeitige ZK über keine profilierten Reformpolitiker verfügt. Ohnehin ist das jetzige Politbüro nur eine Übergangslösung. Selbst wenn die parteiinternen Kritiker mit ihrer Forderung nach einem Parteitag noch in diesem Jahr nicht durchkamen, steht die Wahl der neuen Führung spätestens im Mai 1990 an. Bis dahin wird die Personaldecke für die Reform dichter sein.

Dann wird auch klar sein, ob die wendigen Kurskorrektoren über genügend Substanz verfügen, um eine Reform-SED zu verkörpern, die auch bereit ist, ihr Machtmonopol in freien Wahlen zur Disposition zu stellen.

Matthias Geis