SED-Basis auf der Straße

„Trotz alledem, der Sozialismus lebt!“ war eine der Parolen, die Zehntausende von SED-Mitgliedern aus den „Grundorganisationen“ gestern nachmittag vor dem ZK-Gebäude riefen. Aber ob er noch lange leben wird, stand für die Versammelten durchaus in Frage. Während drinnen das ZK tagte, hatte Mundpropaganda in der Stadt diese spontane Kundgebung zusammengetrommelt. Die Basis läßt sich nicht mehr mobilisieren, sie fordert. Die Abrechnung der Partei mit ihrer Führungsrolle und ihren Führern fiel so hart aus wie bei dem Rest der DDR. Aber sie war ungleich bitterer und doppelt verzweifelt, weil hier im Namen des Sozialismus Bilanz gezogen wurde.

„Eine halbfeudale Variante des Sozialismus“ haben wir, rief Helga Königshof ins Mikrophon. „Wir wollen endlich eine Rolle spielen, wenn auch nicht gleich eine führende.“ Die SED-Basis protestierte gegen jahrzehntelange Entmündigung. Typisch, wie sich ein Schlosser vorstellte: „Ich bin ein machtloser Genosse.“ Demokratisierung, Delegation von unten nach oben, außerdordentlicher Parteitag - das wurde in fast allen Beiträgen gefordert. Michael Brie, Philosoph an der Humboldt-Universität: „Das Volk hat die neue historische Chance erkämpft“, nicht die Partei. Die sei in der Krise und mache die richtigen Schritte „immer erst fünf Minuten vor zwölf“. Brie und andere bekamen für ihre deutliche Kritik aber auch Pfiffe. Sie kamen, wie andere Demonstrationsteilnehmer versicherten, allerdings fast ausschließlich von ZK-Mitarbeitern, die ein Gegengewicht zu den Basisforderungen zu Gehör bringen wollten.

Ein 2. Kreissekretär dagegen: „Reform fängt mit der Ehrlichkeit an. Da ist Rechenschaft und nicht nur Rücktritt gefordert.“ Norbert Frank, Parteisekretär an der Sektion Recht der Humboldt-Universität, sagte, das Politbüro habe „nicht zurücktreten müssen, um in kaum veränderter Zusammensetzung wieder aufzuerstehen. Wieder eine Fehlentscheidung, ein Zeitverlust, den sich das Politbüro nicht mehr leisten kann.“ Eine Frau fragte: „Geht die Bewegung an uns Frauen vorbei?“ Sie verlangte Quotierung in allen Parteigremien.

Zwischen den Wortmeldungen immer wieder Rufe nach Egon Krenz. Ein Vorschlag war, die Kundgebung in den Sitzungsraum des ZKs zu übertragen. Zettel wurden verlesen: zum Beispiel mit der Aufforderung, die Transparente während der gesamten Tagungsdauer vor dem ZK-Gebäude auszustellen.

Gänzlich verloren war da die Stimme einer Genossin aus Mecklenburg. Sie sei in den fünfziger Jahren mit der FDJ aufs Land gegangen, als Traktoristin, habe fünf Kinder, die alle Wohnung und Arbeit haben. Es sei doch „kein Scherbenhaufen“, der Sozialismus in der DDR.

Ihr antwortete indirekt Klaus Kühna, Feuerwehrmann aus Berlin-Mitte: „Mit Schmerzen im Herzen stehe ich vor dem Scheiterhaufen meiner Arbeit.“ Die Ohnmacht habe er ertragen, von den Pfiffen gegen die Partei sei er mitbetroffen. Aber auch jetzt habe sich nichts geändert: „Wir fangen schon wieder falsch an: Jetzt behauptet die Partei, sie habe die Wende eingeleitet.“ Volle Aufklärung und persönliche Konsequenzen klagte er ein. Und dann sagte er etwas, wo allen sichtlich der Atem stockte: Er fragte, ob die Gerüchte richtig seien, daß am 8. Oktober der Schießbefehl und die Erklärung des Ausnahmezustands schon unterschrieben gewesen sei. „Wenn das stimmt, dann darf das Politibüro nie wieder so eine Macht haben.“

Noch leidenschaftlicher sprach eine Frau. „Es geht nicht mehr um einen besseren Sozialismus, sondern darum, ihm noch eine Überlebenschance, eine Daseinsberechtigung zu geben.“ Und: „Die Selbstgerechtigkeit der Parteiführung ist unerträglich. Niemand hat ein Monopol auf Wahrheit.“ Sie forderte Konsequenzen bis hin „zu strafrechtlichen Verfahren bei denen, die sich am Volkseigentum bereichert haben und Menschenschicksale verantworten“. Die Leidenschaft einer Sozialistin.

Und dann kam Krenz aus der Sitzung, grinste, verwies auf die Beschlüsse, die morgen abend übermittelt würden, klatschte (als einziger) selbst seinen dürftigen Worten Beifall und verschwand als Spuk des Apparates. Die Zuschauer des ersten Fernsehprogramms der DDR konnten alles sehen. Der Veranstaltungsleiter erklärte hastig, die „freie Aussprache“ würde nun nichts mehr bringen und bat um den abschließenden Gesang von Brüder zur Sonne, zur Freiheit. Aber die SED -Basis sang, trotzig, verzweifelt, bewegend die Internationale. Viele schwenkten das Parteibuch in der Hand oder reckten die Faust.

Klaus Hartung