Igel und Hasen

■ Hans Magnus Enzensberger wird 60

Er reißt Bestehendes ein, weiß aber kein Mittel, eine neue Ordnung zu schaffen, Auswege bieten ihm nur Utopie und Idylle.“ (Meyer) Wir haben herzlich gelacht. Wir. Kaum ein Wort geht leichter über die Zunge, kaum eins wirft längere Schatten. Wir, das ist ein kleiner Kreis von Lesern, dem Hans Magnus Enzensberger unwissentlich ein ständiger Begleiter geworden ist, der immer da war, wenn wir ihn nicht brauchen konnten, und stumm blieb, wenn wir seiner, wenn möglich mit dem Zola-Effekt, bedurft hätten. Enzensberger, damit müssen wir uns abfinden, ist unpünktlich: Er kommt prompt zu früh. Während wir mühsam unser Erfahrungspensum lernen müssen, hat unser Primus immer schon seine Hausaufgaben gemacht. Wenn wir verschreckt und panisch wie die Hasen auf die zeitgeschichtlichen Beben reagieren, stoßen wir mit Sicherheit auf eine luzide Analyse, die unsere Situation auf den Punkt bringt und uns bedeutet: Ick bün all hier. H.M.E. So kommt es, daß er vielleicht mehr als jeder andere unser Autor ist, weil sein ständiger Vorsprung uns den zweiten Platz zuweist, den Platz der Aktualität. Weil er die längeren Schatten wirft, geht mir das Wir so leicht über die Zunge.

Dabei hat sich der Essayist Enzensberger nie prophetisch gebärdet, sondern die Möglichkeit von Voraussagen kategorisch verneint. Er folgt eben nur früh den Fäden, in denen wir - in Kette und Schuß - uns schließlich verwoben sehen. Wenn man mir vorschwärmt: „Ja, der Enzensberger der sechziger Jahre!“ - und meint den Herausgeber des Kursbuchs, so, als habe er damals als Chefpropagandist eines linken Kampfblattes reüssiert - belehrt mich das Gedruckte eines Besseren: „Kursbücher schreiben keine Richtung vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen... Was schon da ist, muß aber erst aufgeklärt, und das heißt revidiert werden.“ Noch deutlicher wird Enzensberger 1966, als er Peter Weiss bedeutete: „Die moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Revolutionäres Geschwätz ist mir verhaßt. Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit.“ Peng! Das saß. Mit dem gleichen kalten Blick hat unser Mann die Avantgarde und die Literatur totgesagt. Und gibt es sie etwa seitdem noch? Und gäbe es Enzensbergers immense Aufklärungsarbeit nicht, wüßten wir womöglich nicht einmal, wie nötig wir sie haben. Macht euch doch keine Illusionen, empfiehlt er uns beharrlich; die Evolution sei unvorhersehbar, so daß wir mithin, wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben, sondern etwas ganz anderes, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen. In hyperkomplexen Systemen sei eine sinnvolle Planung nicht möglich. Was sie vor dem Zusammenbruch schütze, sei die permanente Regelverletzung, das Improvisieren, das Durchwursteln. Die Anarchie verhindere das Chaos. Mit einer Überfülle von Informationen hat er diesen Befund überprüft, in platonischen Dialogen seine europäischen Varianten dekliniert. Hier hat unser Dialektiker sein Thema gefunden: die staatserhaltende Anarchie. Die Steuerschwindler, Spesenritter, Schwarzarbeiter und Schmuggler, Saboteure und Schrebergärtner treiben die Entwicklung voran. In ihrem kleinen Leben - aber kann Leben etwas Kleines sein? stecken enorme Reserven an Arbeitskraft, Schlauheit, Hilfsbereitschaft, Rachsucht, Widerspenstigkeit, Energie, Umsicht, Mut und Wildheit. Die Angst vor der Zukunft ist nicht ihre Stärke. Sofern die Gattung fähig ist zu überleben, wird sie ihre Fortdauer vermutlich nicht irgendwelchen Außenseitern verdanken, sondern ganz gewöhnlichen Leuten. Solche Überlegungen geben den Blick ins Herz unseres ständigen Begleiters frei, und wir sehen, es schlägt für den renitenten Mann auf der Straße, dem - das sollte dem kalten Blick nicht entgehen - die Rolle des wildgewordenen Kleinbürgers nicht fremd war und ist.

Seht doch in den Spiegel! (den er uns vorhält), ruft er uns ein übers andere Mal zu, und dabei bringt er uns unsere Schuhe durcheinander. Wie oft gleicht sein Diskurs einer mathematischen Gleichung, bei der man alles auf eine Seite bringt und mit Null abschließt! So was setzt, wir er einst an der Manipulationsthese der „sozialistischen Linken“ bemängelte, keine vorantreibenden Kräfte frei. In den trefflichen Notizen aus dem Kanzleramt hat sich Enzensberger mit dem Professor Schack spielerisch ein Ebenbild geschaffen. Nachdem Schack den Kanzler mit seiner Theorie von der stabilisierenden Anarchie in Verwirrung gestürzt, ihn dann aber mit dem Hinweis „Ohne Law and Order keine Anarchie“ wieder in seine Rechte eingesetzt hat, ruft ihm der erzählende Beamte nach: „Erst reißen Sie ein Loch auf, dann schaufeln Sie es wieder zu.“ Worauf der Gelehrte brüllt: „Auf diese Weise werden wir wenigstens nicht arbeitslos.“ Wir Leser könnten, wenn er übermütig sowohl mit dem Wind als auch gegen ihn kreuzt, die Zeitung weglegen und uns achselzuckend freuen. Aber uns ist nicht danach. Wir sehen die herausgestreckte Zunge dieses Provokateurs, wenn er uns tröstet: „Solange noch ein Rest von common sense in euch glüht, solange ihr ganz gewöhnlich als träge Massen durch den Alltag stolpert, seid ihr nicht ganz verloren. Alles in allem ist euch eine gewisse Menschenähnlichkeit nicht abzusprechen.“ Wir merken, daß er immer noch feixt, wenn er schreibt: “...entschuldige, wenn meine Sätze einen höhnischen Unterton angenommen haben. Nicht ich habe ihn hineingelegt, es ist sozusagen objektiver historischer Hohn, und wer den Spott hat, braucht für den Schaden nicht zu sorgen. Wir haben ihn alle miteinander zu tragen.“ Danke. Da wollen wir doch den Abstand wahren. Mögen die Intellektuellen in unserer Gesellschaft überflüssig geworden sein, solange er hinausschaut, wie ein Gott, und keinen Eisberg sichtet, hat er - mit diesem Abstand - für uns zu schreiben. Wir nehmen ihn beim Wort:Auf sehr entlegenen, sehr hohen Türmen / mit fremdartigen Schießscharten / seh ich die Eulen zwinkern. Ja, / dies alles sehe ich wohl, / doch worauf es ankommt, das weiß ich nicht.

Bernd Leukert