EUROPAS SOLARIUM

■ Korsika zwischen „Balearisierung“ und Luxus-Tourismus

Es ist vollbracht. Das „Belvedere“ auf Korsika hat erst die Preise, dann endgültig die Rolläden gesenkt. Herr, dein Sommer war sehr groß. Wie letzte Aussätzige streunen Seniorengruppen durch die Gassen und versuchen, noch ein letztes Mal Saison zu simulieren - vergeblich. Die Patrons der Cafes würdigen sie längst keines Blickes mehr.

Befreit von der Last ihrer 1,5 Millionen Touristen, scheint sich die ganze Insel erleichtert wieder aus dem Wasser zu heben, mit einem Mal zeigt sie ihre leeren Strände, und nur ein Schmutzrand zeigt, daß sich hier einmal erholt wurde.

Abend will es wieder werden, und die Korsen gehen ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: dem Hadern mit dem insularen Schicksal. In diesem Jahr ist der drohende EG-Binnenmarkt beliebtes Thema. Noch drei Saisons bis 1992. Für Roger Miniconi, den Verantwortlichen für die Naturschutzgebiete Südkorsikas, ist es schon jetzt zu spät: „Die Immobilienfirmen bereiten den Binnenmarkt schon seit Jahren vor. Ich habe mir die Kataster von Bonifacio angesehen“, sagt er düster hinter seiner Sonnenbrille, „drei Viertel des Terrains sind schon vor 25 Jahren verkauft worden. Von Investmentfirmen aus Italien, Liechtenstein, Belgien und Paris. Die warten nur auf 1992, um mit dem Bauen anzufangen.“ Ausverkauf der Insel

Nach der Freigabe des Kapitalverkehrs innerhalb der EG brauchen ausländische Firmen dann keine korsischen Strohmänner mehr, um auf der Insel ins Immobilien- und Touristikgeschäft zu investieren. Außerdem werden sie von den gleichen Steuervergünstigungen profitieren wie inländische Firmen.

Die Gegend um Bonifacio, an der äußersten Südspitze Korsikas, soll in den nächsten Jahren auf Luxus-Erholung getrimmt werden. Eine Art „High-Tour„-Zone von 55 Kilometern Länge für die gestreßten Raider aus Mailand, Frankfurt und Paris. Unter den 14 beteiligten Firmen hat eine einzige ihren Sitz auf der Insel. Grund genug für selbstbewußte Insulaner wie Miniconi, den Ausverkauf Korsikas an den Kontinent zu beklagen.

Diesmal ist es eine andere, eine geläuterte Art touristischer Kolonisierung. Die Zeiten des Massentourismus a la Balearen sind vorbei und haben im Süden der Insel zum Glück kaum Spuren hinterlassen - das könnte diesem Gebiet jetzt zum Schicksal werden: „Als sich Korsika in den sechziger Jahren dem Massentourismus öffnete, haben wir nicht mitgemacht. Wir ziehen die Qualität der Quantität vor“, freut sich Bonifacios Bürgermeister Ati Lantieri. Qualität, das heißt aber: Die letzten vom Pauschaltourismus verschonten Gebiete werden finanzkräftigen Edelurlaubern geöffnet. Auf den weißen Felsen um Bonifacio herum wird der Quadratmeter inzwischen für 3.000 Mark gehandelt. „Und das ganze läuft dann unter dem Etikett sanfter Tourismus, weil keine Massenquartiere, sondern schmucke Individualresidenzen gebaut werden“, meint Claude Forcioli-Robertson, eine der wenigen Grünen auf Korsika. Exklusiv-Tourismus

Etwas weiter östlich von Bonifacio und schon so dicht an Sardinien, daß die dortigen Häuser zu erkennen sind, liegt das Archipel Lavezzi, ein Naturschutzgebiet. Doch inmitten der Vogelkolonien brüten auf der Insel Cavallo Paradiesvögel aus den italienischen Finanzzentren in der Sonne. „Insel der Milliardäre“, sagen die Leute aus der Gegend. Den Luxusurlaubern wurde bereits eine Flugpiste gebaut, und „die Abwässer haben das Schutzgebiet bereits stark verschmutzt. Jetzt wurde noch die Erlaubnis für den Bau eines Yachthafens erteilt, obwohl die korsische Regionalversammlung um zusätzliche Studien gebeten hatte“, berichtet Michelle Salotti von der ökologischen Liste aus Corte. Sie meint sogar, daß die Erklärung des Lavezzi-Archipels zum Naturschutzgebiet nur den Sinn hatte, das Gebiet für Exklusivtouristen zu schonen.

Selbstherrliche Lokalgrößen sind keine Seltenheit in Korsika, wo traditionelle Bindungen und Verbindlichkeiten noch immer Vorrang vor rechtlichen Haarspaltereien haben. Auf der Gegenbucht zu Ajaccio etwa und in San Nicolao im Nordosten wurden ganze Siedlungen in Meeresnähe ohne Baugenehmigung errichtet. Einer der Gründe für diese unbekümmerten Besiedlungen: Der regionale Flächennutzungsplan, der seit der Dezentralisierungsreform von 1982 von den Korsen ausgearbeitet werden soll, ist seit Monaten überfällig. „Wegen der Streiks im öffentlichen Dienst zu Jahresanfang hat sich unsere Arbeit verzögert“, meint Pascal Arrighi, Chef der korsischen Finanzkommission und legendärer Inselpolitiker. „Koffer oder Plastik“

Manche sehen das anders. Als sich Anfang August autonomistische Bewegungen in Corte trafen, stellte die militante Nationalistenorganisation FLNC die Verschleppung der Nutzungspläne und die Kollaboration der südkorsischen „Clans“ mit ausländischen Spekulanten in den Mittelpunkt ihrer Warnung: „Wir werden die Balearisierung unserer Insel ohne Nachsicht zu verhindern wissen“, hieß es da unmißverständlich für jeden, der die Politik der FLNC kennt: „Koffer oder Plastik!“ Plastiksprengstoff, versteht sich.

Am Dienstag dieser Woche kam eine Gruppe von dreißig Männern nach Sainte Lucie de Porto Vecchio gereist, einem Feriendorf 25 Kilometer nördlich von Bonifacio. Es waren keine Touristen, im Gegenteil: Bewaffnet mit Maschinenpistolen, hielten sie die 17 Einwohner der Siedlung in Schach und brachten Plastiksprengstoff an zwei Neubauten an, die von einem italienisch-französischen Konsortium errichtet wurden. Es gab keine Verletzten - nur von den Gebäuden blieb kein Stein mehr auf dem anderen. Das Attentat beendete den seit 1.Juni letzten Jahres de facto bestehenden Waffenstillstand und wurde von der separatistischen Organisation FLNC verantwortet.

Die korsischen Nationalisten fürchten, daß die 700 Millionen Franc, die die EG-Kommission der Insel bis Mitte Oktober 1993 zugesagt hat, nicht zur Stärkung der insularen Produktionen verwendet, sondern in Projekte wie Flughafenerweiterung und Straßenbau fließen werden, wodurch noch mehr Touristen angelockt würden. Auf dem „Insel -Colloquium“ in Ajaccio wurde wiederholt von einem - noch inoffiziellen - Nutzungsplan gesprochen, der bis zum Jahr 2000 von vier Millionen Korsikabesuchern pro Jahr ausgeht. Die Insel hat übrigens 240.000 Einwohner. Korsika - Solarium im Haus Europa? Ist das die Rolle, die für die Insel im Binnenmarkt übrigbleiben wird? Eine Aussicht, mit der sich viele Korsen nicht zufriedengeben wollen. „Vier Millionen Touristen, das bedeutet den Tod des korsischen Volkes, seiner Kultur und seiner natürlichen Umwelt“, sagt Michelle Salotti ohne die kontinentale Scheu vor dem Pathos. Sie sieht als letzte Rettung einen Ausbau der Infrastruktur für die schon bestehenden Zentren anstatt für neue Projekte und einen „Investitions-Kodex“, der den Erwerb von Land steuern soll. Ob sich diese Politik durchsetzen läßt - zweifelhaft.

Bislang wird der Widerstand gegen die „Erschließung“ von Korsikas Süden nur von der „Circondia“ getragen, einem Bündnis von Umweltschutzvereinigungen. „Es ist schwer, die Bevölkerung zu mobilisieren, solange noch nicht gebaut wird“, sagen die Grünen. Aber dann sind die juristischen Entscheidungen bereits gefallen. Außerdem steht viel Geld auf dem Spiel: Der Tourismus ist Frankreichs bewährtestes Mittel, die chronisch defizitäre Zahlungsbilanz auszugleichen, und die wird nach 1992 gewiß nicht besser.

Alexander Smoltczyk