Genehmigungsverfahren für gentechnische Anlagen als „emanzipatorisches Alibi“?

Das seit der „Contergan-Affäre“ weltweit bekannte Aachener Pharmaunternehmen Grünenthal fordert die Genehmigung für eine neuartige gentechnische Produktionsanlage / Ein öffentlicher Erörterungstermin fand Anfang Oktober statt / Zufrieden war am Ende keine der beteiligten Parteien  ■  Von Gerd Spelsberg

Zufrieden war am Ende niemand. Zwei lange Tage mühsamer, kleinteiliger Diskussion hatten das Gefühl tiefen Unbehagens, zu Beginn und amtlich geäußert, nicht entkräften können. Im Gegenteil - es fand sich auf selten konkrete Weise bestätigt.

Gar nicht glücklich darüber sei er, hatte Verhandlungsleiter Dr.Jochen Schwab, Jurist beim Regierungspräsidenten in Köln, in seiner Begrüßung vorsichtig formuliert, daß bereits über die Genehmigung gentechnischer Produktionsanlagen befunden werden müsse, obwohl die Öffentlichkeit sich darüber gar nicht einig sei, ob sie diese neuartige Technik überhaupt wünsche. Diese Ungleichzeitigkeit zwischen einer ungeduldig drängenden Industrie und den Skeptikern, die vor einem übereilten, in seinen Auswirkungen unüberschaubaren Einstieg ins gentechnologische Zeitalter warnen, prägte bis ins Detail den Erörterungstermin in Sachen Grünenthal.

Mit ihm haben nicht nur die Auseinandersetzungen um das konkrete Projekt, ausgetragen in kleinen und großen Diskussionsrunden vor Stadtrat und Bezirksvertreteung, ihren Höhepunkt erreicht; sein Verlauf markiert auch eine neue Phase, die die öffentliche Kontroverse um die Zukunft der Gentechnik in der Bundesrepublik erreicht hat. War diese bisher dadurch gekennzeichnet, daß sie die großen grundsätzlichen Fragen der Gentechnik aufgriff, sie in ethische natur- oder evolutionsphilosophische Zusammenhänge rückte, so läßt sich nun vermuten, daß es fortan praktisch, technisch, handfest zugehen wird. Denn noch immer hinkt die gesellschaftliche Akzeptanz der Gentechnik ihrer rasanten Entwicklung hinterher.

Therapeutischer Fortschritt contra Akzeptanzprobleme

Nun ist auch hierzulande die Gentechnik an der Schwelle angelangt, wo sie aus den Forschungslabors zur industriellen Anwendung drängt. So hinderlich die Akzeptanzprobleme auch dabei sind: Gerade die ersten zur Genehmigung anstehenden Projekte bieten Gelegenheit, verlorenes Ansehen zurückzugewinnen. Die Chancen stehen nicht schlecht, birgt doch eine Anlage wie die bei Grünenthal vergleichsweise geringe und kalkulierbare biologische Risiken - der bakterielle Produktionsstamm ist bis auf den eingebauten Genabschnitt seit langem bekannt, und er soll lediglich die inaktive Vorstufe des gewünschten Wirkstoffes produzieren. Zudem verspricht die Firma mit dem neuen Medikament Saruplase, das ausschließlich mit gentechnischen Verfahren hergestellt werden kann, einen „relevanten therapeutischen Fortschritt“ im Kampf gegen den Herzinfarkt. Auch wenn bei der Anwendung von Suraplase mit gefährlichen inneren Blutungen zu rechnen ist, scheint der lebensrettende Nutzen so offenkundig, daß er mögliche Risiken und Nebenwirkungen überblendet.

Diese Linie zur „Sympathiewerbung“ greift auch eine aktuelle Anzeigenkampagne der „Bayer AG“ (Leverkusen) auf: Die Genforschung eröffne der Medizin „neue Wege“, nur mit ihr sei es möglich, die meisten Krankheiten - darunter Krebs und Rheumatismus - „kausal zu therapieren“. „Entwicklungen, die Fragen der Ethik aufwerfen“, so der Anzeigentext, werden bei Bayer „grundsätzlich nicht betrieben“. Es gilt, die Furcht vor der „schönen, neuen Welt“ zu nehmen.

Der Versuch, die Debatte um die Gentechnik von ihrem ethisch-utopischen Hintergrund zu lösen, das Versprechen, mit ihrer Hilfe gerade die heimtückischen, bislang als „unheilbar“ geltenden Volkskrankheiten zu besiegen, schafft neue Herausforderungen auch für diejenigen, die den Einstieg ins gentechnische Zeitalter abbremsen und den politischen wie wirtschaftlichen Preis dafür möglichst weit nach oben treiben wollen. Die Kritiker müssen mit ihren Argumenten einige Konkretionsstufen herab. Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig, als auch im Fall der Grünenthal-Anlage auf den ungeklärten biologischen Risiken zu beharren und alle plausiblen bis hypothetischen Ereignisse Überlebensfähigkeit der Bakterien außerhalb des Fermenters, Gentransfer mit andern Organismen - als prinzipiell möglich herauszustellen. Wahrscheinlichkeiten, seien sie auch gering, sind nicht zu vernachlässigen, Irrtümer unkorrigierbar. „Die Genmanipulation“, so der amerikanische Sicherheitsforscher Charles Perrow, „ist wahrscheinlich die am wenigsten fehlerverzeihende Technik, die wir in der Vergangenheit entwickelt haben.“

Genehmigungsniveau reicht über den Einzelfall hinaus

In den ersten Genehmigungsverfahren bilden sich, vorsichtig und durchaus widersprüchlich, erste Standards und Vorbehalte heraus, unter denen gentechnische Produktionsanlagen behördlich zugelassen werden; hier gilt es, das Prinzip einer angemessenen Risikovorsorge, wie sie das Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) vorsieht, auch für Gentechnikbetriebe mit ihren gänzlich neuartigen Risiken zu entwickeln und durchsetzbar zu machen. Das Genehmigungsniveau, um das hier gestritten wird, reicht weit über den jeweiligen Fall hinaus. Denn die bei Grünenthal betriebene Variante der Gentechnik hat nur eine begrenzte Zukunft: Da die meisten der Gensequenzen für die begehrten Pharmawirkstoffe - langkettige Eiweißmoleküle - zu groß sind, um sie in „brave“ E.coli-Bakterien einzubauen, müssen die Molekulardesigner aus den industriellen Forschungslabors zunehmend auf Zellkulturen und Viren als Vektorsystem ausweichen - so bei dem Vorhaben der Marburger Behring -Werke, dessen Anlage zur Herstellung des Blutbildungshormons Erythropoietin (EPO) vier Wochen zuvor als bundesweit erstes gentechnisches Projekt öffentlich erörtert wurde.

Schon der pharmazeutische Zweig der Gentechnik bringt so zwangsläufig steigende Risiken - erst recht die Freisetzung genetisch manipulierter Nutzpflanzen, die der Ministerrat der EG - im Gegensatz zu den Empfehlungen des Europäischen Parlaments - kürzlich genehmigt hat. Für die BRD ist im kommenden Frühjahr mit den ersten Großversuchen zu rechnen.

Vor dem Hintergrund dieses Konfliktverlaufs gewann der Erörterungstermin in Aachen zusätzlich an Brisanz; alle Beteiligten hatten, stellvertretend für ihr „Lager“, wichtige Rollen zu übernehmen.

In drei Reihen gestaffelt saß - ein stattliches Aufgebot für ein mittelgroßes Pharmaunternehmen - die Spitze und der Fachverstand der Firma Grünenthal, dazu drei Anwälte einer renommierten Frankfurter Kanzlei. Längst war der Stolz, als erste in Nordrhein-Westfalen die neue „Zukunftstechnologie“ industriell zu nutzen, dem Ärger gewichen, in der Zähigkeit der Genehmigungsprozedur steckengeblieben zu sein. Eine „Qual“ sei es, beklagte sich Grünenthal-Forschungsleiter Prof.Flohe im Juni vor dem Düsseldorfer Landtagsausschuß für Umweltschutz und Raumordnung, „seit acht Monaten haben wir die gesamte Forschungs- und Produktionsspitze plus Rechtsabteilung lahmgelegt“.

Im Kern: Definitionsmacht von Wissenschaft

Bei dieser Gelegenheit forderte Flohe, übereinstimmend mit dem VCI (Verband der chemischen Industrie), dessen Interessen er gleich mit vertrat, und der zuständigen Gewerkschaft (IG Chemie), verläßliche, einheitliche gesetzliche Rahmenbedingungen, „ein angemessenes Maß an behördlichen Komplikationen und Auflagen“ - und: „Klarheit im Vollzug“. Was er damit meinte, ist einer der Hauptstreitpunkte um das geplante Gentechnikgesetz, über das der Bundestag in erster Lesung noch in diesem Jahr entscheiden will. Danach wird ein Genehmigungsverfahren wie das bei Grünenthal künftig anders ablaufen - schneller, alle administrativen Kompetenzen an zentraler Stelle gebündelt, für die Industrie berechenbar und unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Im Kern geht es bei diesem Konflikt um die Definitionsmacht von Wissenschaft.

„Es kann nicht angehen“, sagte Flohe vor dem Landtag, „daß Laien darüber entscheiden, wie gefährlich ein Bakterium ist.“ Das Risikopotential von Stämmen „muß von Fachleuten eindeutig festgelegt werden„; und Rupert Scholz, Exverteidigungsminister und Ordinarius für Staatsrecht an der Universität München, ergänzte ihn, indem er jede Öffentlichkeitsbeteiligung als „emanzipatorisches Alibi“ verwarf und „irgendwelchen Öffentlichkeitsvertretern... tatsächliche Kompetenz“ absprach ('Die Welt‘, 8.6.89).

Wird die Entscheidungsbefugnis darüber, was als relevantes biologisches Risiko zu gelten hat, dem behördlichen wie dem öffentlichen Genehmigungsverfahren entzogen und qua Gesetz einer fachinternen Nomenklatura wie der ZKBS (Zentrale Kommission für biologische Sicherheit) verliehen, überschätzt man nicht nur die tatsächlichen Möglichkeiten von Wissenschaft, sondern degradiert sie zur Legitimationsinstanz industrieller Verwertungsinteressen.

„Indem sich das Sicherheitsdenken weitgehend auf Labormodelle stützt, deren Übertragbarkeit auf komplexere Umweltsituationen begrenzt bleiben, sind die daraus abgeleiteten Sicherheitskonzepte zweifelhaft“ - so ein vom „Öko-Institut“ im Auftrag des Düsseldorfer Ministers für Arbeit, Gesundheit und Soziales erstelltes Gutachten, das auf über 220 Seiten den „Bedarf an Forschungsprojekten zur Ermittlung der mit der Anwendung gentechnischer Verfahren und Produkte... verbundenen Risiken“ auflistet.

Analyse der potentiellen Risiken vermißt

Wie notwendig und bereichernd der Zwang zur Öffentlichkeit wissenschaftlicher Kontroversen sein kann, veranschaulichten auch die Auseinandersetzungen um die biologische Sicherheit der Grünenthal-Anlage, ging es dabei doch nicht um mathematisch-eindeutige Sachverhalte, sondern um die unterschiedliche Gewichtung der Sicherheitsrelevanz von Eintrittswahrscheinlichkeiten bestimmter biologischer Vorgänge. Während für Prof.Flohe selbst das „worst-case„ -Szenario des Super-GAUs - des freien Austritts aller Bakterien einer Fermenterfüllung und ihrer aktiven DNA allenfalls eine Belästigung darstellt wie die gleiche Menge „feuchter Tierfäkalien“, kamen die Biologen Christian Walter und Frank Baudisch, von den Grünen als Gutachter beauftragt, zu gegenteiligen Schlüssen. Sie vermißten in den Grünenthal -Unterlagen eine „detaillierte Analyse der möglichen Verbreitungswege und -mechanismen sowie eine Beschreibung der potentiellen Risiken aller neuen Eigenschaften des Produktionsstammes“.

Beharrlich, fundiert und wissenschaftlich belegt verfochten Walter und Baudisch einen „offenen“, beim Sprung vom Labor in den Produktionsmaßstab jedoch restriktiven Sicherheitsbegriff. Sie machten transparent und auch für Laien deutlich, wie sich dieser von dem Prof.Hoboms, Molekularbiologe aus Gießen, stellvertretender Vorsitzender der ZKBS und als Sachverständiger nach Aachen geladen, unterscheidet, der sich auf das Prinzip der „Extrapolation analoger Fälle“ berief und mit dieser Begründung die Notwendigkeit jeder Sicherheitsmaßnahme bei Grünenthal vehement abstritt.

Schon am Morgen des ersten Tages hatten sie es angekündigt und so für einige Stunden Spannung gesorgt, bis Walter und Baudisch tatsächlich auf eine offenkundige Lücke im Konzept der physikalischen Sicherheit hinwiesen. Alle Abwässer aus dem Fermenter, angereichert mit Bakterien des Produktionsstammes und freier DNA, werden einer „thermischen Denaturierung“ zugeleitet, welche diese - nach 20 Minuten bei 121 ‘ C - vollständig „abtöten“ soll. Auch die flüssigen Rückstände anderer Produktionseinheiten fließen in die Hitzesterilisation, darunter, technisch nicht ausgeschlossen, auch „Guanidin-Hydrochlorid“. Dieser Stoff jedoch wirkt sogar in geringen Konzentrationen, wie von Grünenthal selbst beobachtet, als stabilisierender „Schutzeffekt“: In seiner Anwesenheit „überlebt“ aktives biologisches Material die thermische Desinfektion. Für Walter und Baudisch gilt deswegen der „Übertritt von DNA in das Abwasser“ nicht als Stör-, sondern als „Normalfall“.

Am Schluß, nach ermüdender Erörterung auch kleinerer technischer Details, nachdem wiederholt „Verordnungslücken“ sichtbar wurden - so kann deswegen keine systematische Sicherheitsanalyse vom Betreiber verlangt werden, weil eine gentechnische Produktionsanlage nicht wie die meisten Chemiebetriebe unter die Störfallverordnung fällt -, überdeckte die Erleichterung, es überstanden zu haben, die Ratlosigkeit bei allen Beteiligten: bei den Behörden, die trotz einer rechtlich nur diffusen Definition biologischer Sicherheit den Fermenter in Eilendorf genehmigen müssen; bei den Grünenthal-Vertretern, die ihre Ungeduld werden zügeln und dem Vermarktungsdruck widerstehen müssen, denn sie werden mit dem Bau ihrer Anlage noch einige Zeit warten müssen und nach dem Verlauf des Erörterungstermins zudem mit Auflagen und Vorbehalten zu rechnen haben; und auch bei den Einwendern, die erneut haben erfahren müssen, daß auch klug vorgetragene Argumente den fahrenden Zug ins gentechnische Zeitalter nicht werden aufhalten können.

Jochen Schwab aber kann zufrieden sein. Mit seiner umsichtigen und problembewußten Verhandlungsführung ist die Demonstration gelungen, daß Offenheit und Öffentlichkeit dann unverzichtbar sind, wenn ein Genehmigungsverfahren dem Prinzip der Risikovorsorge gerecht zu werden hat.