Das andere Deutschland

Für den Traum von der Freiheit kämpfen!  ■ K O M M E N T A R

Ohne Gewalt ist sie gefallen, die Mauer. Die Freiheit, die jetzt aus dem Osten kommt, hat die westlichen Freiheitsbesitzer stumm gemacht. Noch nie ist tonloser, trüber eine historische Entscheidung bekanntgegeben worden, noch nie haben die Herrschenden depressiver die Sehnsucht ihres Volkes erfüllt. Es ist eine welthistorische Entscheidung. Welchen Sinn hat jetzt noch die Nato, wenn der Durchbruch von Orange in Nordhessen absurd geworden ist? Die Geschichte ist voll von Siegen des Volkes und voll von der blutigen Rache der Verlierer. Hier haben die Verlierer die weiße Flagge gehißt, spät, sehr spät, aber in diesem Fall nicht zu spät. Das ehrt sie. Sie waren die schlimmsten Vertreter des siegreichen Sozialismus, sie sind würdige Verlierer. Es gibt keinen Grund, den Verlierern nicht Größe zuzubilligen. Alle westlichen Politiker sollten sich daran erinnern, wie brutal unsere Verlierer die Festungen von Wackersdorf und Brockdorf verteidigt haben. Die SED hat nicht nur die Mauer geöffnet. Sie hat praktisch die „Volksmacht“ dem Volke übergeben. Ab jetzt kann sie nur noch mit allen regieren, daß heißt, alle regieren mit ihnen. Wenn alle weggehen können, bleiben sie durch keine andere Macht als durch die Macht des Konsenses und durch die Macht der Hoffnung im Lande.

In der DDR kommt es jetzt - wie noch nie in der Geschichte auf das Volk selbst an. Auch wenn 51 Prozent weglaufen, einfach weil sie wissen wollen, wie anders gelebt werden kann, ist das DDR-Volk eine Macht, hat alle Chancen auf eine eigene Zukunft. Wenn wir diese Zukunft zerstören - und wir können es -, zerstören wir auch unsere Zukunft. Die deutsche Nation, die - zum Schaden anderer Völker - sich verspätende Nation, erhält noch einmal die Chance eines Nauanfangs. Mit dem Fall der Mauer ging die langandauernde Nachkriegsperiode mitten im Herzen Europas endgültig zu Ende. 1945 ist der Neuanfang verspielt worden. 1989 ist noch einmal eine verspätete Chance gegeben. Aber: Diese gesamtdeutsche Chance besteht nur, wenn die DDR Bestand hat, wenn das reichste Land Europas ein Experiment mit unterstützt, daß man jetzt noch hilflos, mangels besserer Worte, demokratischen Sozialismus nennt. Oder: Der westdeutsche Kapitalismus greift nach einer billigen Arbeiterklasse, und es entsteht eine bisher unbekannte gesamtdeutsche Klassengesellschaft, die zur latenten Gefahr für ihre Nachbarn werden wird. Entweder eine große Koalition für die Zukunft zweier Staaten deutscher Nation oder ein westdeutsches Parteiensystem, daß über das potentielle Wahlvolk DDR herfällt und die Auflösung der DDR dem Kapital überläßt - das ist die Alternative.

Ist die Alternative schon entschieden, hat dieser Traum von einem anderen Deutschland zweier Staaten schon ausgespielt? Ist es absurd, angesichts der Größe der Ereignisse, angesichts der Größe auch der Verlierer, selbst großzügig zu werden? Der westdeutsche Kapitalismus hat vom Realsozialismus gezehrt und ist von ihm auch bestimmt worden. Opfern wir unsere Arroganz der besseren freiheitlichen demokratischen Grundordnung! Kämpfen wir für den Traum von der Freiheit, der in der DDR begonnen hat, träumen wir mit.

Klaus Hartung