Eine historische Nacht

Die „Brüder und Schwestern“ werden mündig  ■ K O M M E N T A R

Die Mauer hat ihre Schrecken verloren, Ergebnis einer Revolution, einer klugen und sanften Revolution, einer Revolution, die man sich in einem deutschen Land nicht hätte vorstellen können. Die Menschen, die herüberströmen, lachen, weinen; die, in ihren altmodischen Trabis eingeklemmt, zwischen blitzenden, hupenden Westkarossen über den Kudamm fahren, bejubelt, aber ein wenig verloren, sind gekommen um sich das westliche „Konsumparadies“, das sie immer nur durch den Zaun oder durch das Fernsehen kannten, einfach mal selbst anzuschauen. Es waren nur wenige Ausreiser. Sie wurden begeistert begrüßt, doch das Thema war die „Wiedervereinigung“ von Menschen, nicht von Staaten.

Das Volk der DDR hat sich das erkämpft, nicht die Spruchbeutel im Westen. Das Volk - plötzlich kann man wieder von „Volk“ sprechen, weil es hier der wirkliche Akteur war hat sich ein selbstverständliches Recht genommen. Vielleicht liegt darin das Wesen von Revolutionen: daß sich Menschen der Selbstverständlichkeit bestimmter Forderungen bewußt werden und sie sich einfach, ohne lange zu fragen, erfüllen. Ihre Forderung war: nicht mehr bevormundet zu werden, auch und gerade nicht in der Frage, wo sie etwa ihr Bier trinken wollen.

Es liegt historische Gerechtigkeit darin, daß die SED, die für die Mauer, für den brutalen Schnitt quer durch den lebendigen Organismus einer Stadt, verantwortlich war, unfähig ist, ihre Überwindung politisch zu inszenieren. Die neue Führung hat eine einmalige Chance vertan, Legitimität, Popularität zu gewinnen. Auch richtige Entscheidungen trifft sie erst fünf nach zwölf, unter dem Druck der Straße. Man stelle sich vor, Krenz wäre vorgestern vor die Fernsehkameras getreten und hätte das, was jetzt faktisch geschieht, als seine Entscheidung, eine frühere falsche Politik zu revidieren, verkündet - er wäre der Mann der Stunde gewesen. Statt dessen verkündet Schabowski, der zweite Mann in der Führung, gegen Ende einer ziemlich langweiligen Pressekonferenz die Entscheidung fast beiläufig. Selbst dann noch kleinliche Reglementierung: Man soll sich vorher bei einer Meldestelle der Volkspolizei ein Visum holen. Das Volk drängt an die Grenze, will so rüber, die VoPos sind hilflos, verweigern erst die Ausreise, lassen sie dann doch zu, denn der Druck der Straße wird stärker. Die Partei, die sich noch immer die „führende“ nennt, weicht Zentimeter für Zentimeter zurück. Alles muß ihr abgetrotzt werden.

Aus östlicher Richtung hat die Mauer nur mehr symbolischen Wert, Zeichen für die antiquierte Konzeption des Sozialismus als Anstalt. Aus westlicher Richtung wird sie wohl noch einige Zeit bleiben. Die Westler, die in der letzten Nacht in den Osten strömten, sie müssen sich heute schon wieder um Visa bemühen. Der Traum einer Stadt ohne Grenzen wird noch etwas auf seine Realisierung warten müssen. Er stößt jetzt auf ökonomische Grenzen. Die Mauer hat ihre Funktion verkehrt: Sie ist jetzt „Schutzwall“ gegen den Ausverkauf durch Westbürger, die die Mark im Verhältnis 1:10 eintauschen und den Konsumgütermarkt in Ost-Berlin binnen kurzem zum Zusammenbruch bringen könnten. In dieser Funktion erfreut sie sich im Osten sogar einer gewissen Popularität. Die Voraussetzungen dafür zu ändern ist Aufgabe der neuen Regierung unter Modrow. Der Westen sollte dabei nach Kräften helfen.

Darüber hinaus wird die Teilung der Stadt aber auch noch in einem anderen Sinn fortbestehen, wobei das aber keine schmerzhafter Schnitt mehr sein muß, sondern zu einer Linie produktiver Spannungen werden kann. Auch für die Menschen im Westen könnte sich daraus ein neuer Anstoß ergeben, neue gesellschaftspolitische Phantasie zu entwickeln. Sind doch die Menschen drüben dabei, einen großartigen Versuch zu unternehmen: Sie wollen nicht, wie das ein DDR-Bürger sagte, zum „Sizilien der Bundesrepublik“ werden, sondern sie wollen etwas Eigenes verwirklichen: eine humanere, demokratische, sozialistische Gesellschaft. Gelänge ihnen das, so würden sie Weltgeschichte machen. Die vergangene Nacht war ein Markstein auf diesem Weg.

Walter Süß