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Kieken kann ick noch nächste Woche“

Für die meisten GrenzgängerInnen galt: Wir kehren zurück  ■  Von Drüben Ulrike Helwerth

„Lassen die mich auch sicher wieder zurück?“ Ute ist vor Aufregung den Tränen nahe. Die 16jährige Schülerin ist mit ihrer Clique gleich losgestürzt, als die Nachricht übers Fernsehen kam. Zum nächsten Übergang an der Oberbaumbrücke. „Wir wollen nur mal gucken.“ Das wollen die anderen auch. Donnerstag nacht, Viertel vor elf, umlagern bereits mehrere Hundert den kleinen Grenzposten, der den Ostbezirk Friedrichshain mit Kreuzberg verbindet.

Volksfeststimmung herrscht, aber kein Chaos. Brav füllen die Leute noch die hellgelben Reiseformulare aus, die von Hand zu Hand an die Neuankömmlinge durchgereicht werden. „Braucht noch jemand Zollerklärungen?“ ruft einer. „Nee, Kohle brauchen wir“, kommt die Antwort zurück. „Wir sind blank.“

Vom Biertisch, aus dem Fernsehsessel, auch aus dem Bett sind sie aufgebrochen, mit dem Trabi, mit dem Taxi oder kutschiert von Freunden, um diesen historischen Moment ja nicht zu verpassenn. Ein Ehepaar will seiner halbwüchsigen Tochter bloß mal den Stadtteil (Kreuzberg S036) zeigen, in dem der Vater aufgewachsen ist. Zwei ältere Leute haben ihre Tochter, die seit Mai in West-Berlin lebt, per Telefon aufgeweckt. „Wir kommen jetzt rüber.“

Anke, 29, hat es eilig: Bei einem Freund in Neukölln ist heute Geburtstagsfete angesagt. „Mensch, habt ihr ein paar Mark?“ will sie von den Westberliner Freundinnen wissen, die sie zwar zu Grenze gefahren haben, heute Nacht aber darauf beharren: „Wir bleiben hier!“ „Mir ist schlecht vor Aufregung“, hat Anke im Auto noch gejammert. Jetzt hat sie sich bereits durchgedrängelt. Morgen früh will sie wieder zurück bei Mann und Kind sein.

Inzwischen hat sich vorm Reisebüro am Alex eine riesige Traube gebildet. Milde beäugt von zwei oder drei uniformierten Streifen. Leute, die vom Übergang Checkpoint Charly oder Friedrichstraße zurückgeschickt wurden mit der Auskunft, sie müßten sich dort erst einen Einreisestempel holen. Während die einen eine ordentliche Schlange bilden, belagern andere frech die verschlossenen Glastüren. „Stempel raus, Stempel raus“, verlangen sie. „Das hat heute abend doch keinen Sinn mehr“, redet Jens, 23, auf seine Freundin ein. „Laß uns morgen wiederkommen.“

Die beiden saßen mit Freunden in einer Kneipe, als übers Radio die Botschaft kam. „Das war ein wahnsinniger Jubel, die Sektkorken knallten nur so“, erzählen sie. Und: „Die Leute fielen sich in die Arme, das war eine Verbrüderung ohnegleichen.“ Die Hälfte sei dann sofort losgezogen.

Zehn Minuten später, die Menge ist gewaltig angeschwollen, brüllt jemand: „Jetzt geht's auch ohne Stempel!“ Eine Armada von Trabis und Wartburgs knattert in Richtung Ausgang los. Nightlife auf dem sonst so öden Alex.

„Fahrt ihr uns an den Checkpoint Charly?“ Jens und seine FreundInnen haben es sich anders überlegt. Auf ein Bier wollen sie rüber, vielleicht Freunde besuchen. „Klar kommen wir wieder. Jetzt, nach dem 4. November, wird's doch erst richtig spannend.“

Nach Mitternacht sind die meisten Kneipen im Zentrum bereits dicht. Doch in der „Theaterklause“, gegenüber der Volksbühne, ist noch „Nachtbar“. Nach einer Gesichtskontrolle geht's in eine trüb beleuchtete Disko -Bar.

Wenig Gäste, die meisten scheinen bereits blau. Stimmung null. Nur ein Kellner ist wirklich guter Laune. Er hat heute seinen letzten Arbeitstag. Morgen will er seinen Koffer „aber wirklich nur einen“ - packen und übersiedeln. Und warum ist er dann nicht schon heute gegangen? „Naja, wegen der Kollegialität eben.“ Dienst ist Dienst. Sein Kollege gibt sich unerschüttert. Ein junger Mann redet aufgeregt auf ihn ein. Ob er schon wüßte, daß alles offen sei? „Na und, kieken kann ich auch noch nächste Woche.“

Inzwischen, kurz vor 2 Uhr, ist der Übergang Invalidenstraße nur noch ein Chaos, mühsam geregelt in deutsch-deutscher Kooperation zwischen Westberliner Polizei und Ostberliner Vopos. Vor drei Stunden war hier noch tote Hose.

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