„Wie komme ich am besten nach Steglitz?“

Ost-Berlin befindet sich im Aufbruch / Einige Läden bleiben ganz geschlossen, Baukräne stehen still / Feiertagsstimmung unter strahlend blauem Himmel  ■  Aus der Hauptstadt D. Hahn

„Hereinspaziert, wir haben noch genügend Platz.“ Mit einer lässigen Handbewegung begrüßt der DDR-Grenzer die wenigen westdeutschen und Westberliner BesucherInnen an der Übergangsstelle im Bahnhof Friedrichstraße, die an diesem Tag in die Hauptstadt der DDR wollen. Kein Gedränge, keine langwierigen Kontrollen von Pässen und Handtaschen, keine strenge Miene beim Abfertigen - traumhaft problemlos ist der Wechsel über die deutsch-deutsche Grenze an diesem Tag.

Draußen vor dem Bahnhof warten Tausende von DDR -BürgerInnen, die in umgekehrter Richtung reisen wollen. Sie stehen in den Bahnhofgängen, auf dem Vorplatz, auf der Friedrichstraße, unter der Unterführung, bis hin zu der Straße Unter den Linden. Die Volkspolizei hat den Autoverkehr schon seit den Vormittagsstunden umgeleitet. Gutgelaunte Gesichter, Witze, jeder redet mit jedem - eine ausgelassene Stimmung, die ansteckt. Wildfremde Menschen kommen ins Gespräch miteinander: „Wo ist drüben die nächste Bank?“ - „Wieviel Geld braucht man zum telefonieren?“ - „Wie komme ich am besten nach Steglitz?“

Wer schon am Vorabend oder in der Nacht drüben war, gibt seine Erfahrungen weiter: über die Kneipen, wo man mit „Mark“ zahlen kann. Darüber, daß die U-Bahn für DDR-Bürger kostenlos ist, und daß der schwarze Wechselkurs bis zu eins zu zehn beträgt. Niemand schimpft über das Schlangestehen. „Das sind wir ja gewohnt, nur war es nie so schön wie heute“, sagt eine Mutter mit Kinderwagen. Dabei bekommt sie glänzende Augen und wird ein bißchen rot im Gesicht. „Ach“, seufzt sie, „jetzt habe ich schon wieder diese Gänsehaut.“

Die ganze Stadt ist in Feiertagsstimmung. Ein strahlend blauer Himmel hängt an diesem 10.November über Berlin. In den Vororten mußten Kaufhallen zumachen, weil sich die Kassiererinnen gemeinsam auf den Weg in den Westen gemacht haben. Ganze Betriebsabteilungen haben es ihnen gleichgetan. An vielen Marktständen hängen vorgedruckte Schildchen mit dem Hinweis „Heute geschlossen“. Auf den Großbaustellen stehen die Kräne still. Auf der Prachtstraße Unter den Linden sind die ausländischen TouristInnen unter sich. Gähnende Leere selbst vor dem Denkmal für die Opfer des Faschismus, wo sonst die Ehrengarde den preußischen Stechschritt vorexerziert.

In dem großen „Centrum„-Kaufhaus am Alexanderplatz haben sich schon morgens viele Verkäuferinnen für den Tag abgemeldet. „Ich komme aber ganz bestimmt zurück“, sollen manche beteuert haben. Ihnen werden Fehlstunden angeschrieben, aber selbst die Vorgesetzten haben Verständnis für das Fernbleiben. Ohnehin ist heute kaum etwas zu tun: Das „Centrum“, wo sich sonst am Freitag dichte Menschentrauben vor den Verkaufsständen bilden, ist verwaist. „Nein, wir haben keinen Kundenrückgang“, sagt eine Verkäuferin trotzdem. Und an dem Informationspavillon am Eingang meint eine junge Frau: „Wir müssen jetzt erst einmal prüfen, ob sich etwas geändert hat.“

Draußen auf dem Platz geht der Schwarzhandel weiter. Aber für die winzigen Sortimente von Rockkassetten, Pornofotos, Jeansjacken oder Schlüsselanhängern interessieren sich heute vor allem TouristInnen aus dem sozialistischen Ausland. Zwei junge Berlinerinnen sonnen sich auf einer Steinbank. Sie wollen erst am Abend rüber. Westgeld? - brauchen sie nicht, „wir wollen bloß ein bißchen über den Kudamm bummeln und Freunde besuchen“. Überhaupt, die „Ökonomie“ - das könne gar nicht lange gutgehen, wenn „unsere Regierung sich nicht schnell etwas einfallen läßt. Sonst geht es uns hier bald noch schlechter.“

Eine ganze Hauptstadt befindet sich im Aufbruch. Die Rentnerin, die West-Berlin noch aus seiner Jugend kennt und dort Verwandte hat, will nur schnell ihre 100 D-Mark abholen. Der Sportstudent, der wegen Aufmüpfigkeit von der Hochschule in Halle geflogen ist, will Kontakt zum AStA der Freien Universität aufnehmen, und der Punk, der seine „Kumpeline“ im Westen besuchen will, „weil die heute abend ein Fest für mich macht“. Ein Ehepaar hat seine beiden Kinder bei der Oma am Müggelsee abgegeben. „Denen können wir noch nicht zumuten, heute nachmittag vor den Auslagen am Kudamm zu stehen, die verkraften das nicht“, sagt die Mutter. Sie will sich erst selbst an das Warenangebot des Westens gewöhnen.

Allein die Toilettenfrau im Markt will auf gar keinen Fall rüber. „Ich kenne das alles aus den 50er Jahren. Damals waren drüben die Geschäfte auch schon voll und wir konnten wenigstens was kaufen. Die sollen hier erstmal zusehen, daß wir besser versorgt werden. Ist doch Quatsch, dieses Feiertagsgerede. Als ob man über Nacht 40 Jahre gutmachen könnte.“

Auf dem Bahnhof Alexanderplatz singt jemand „Ha-le-lu-ja“. Die hohe Decke gibt das Echo zurück. Die Wartenden grinsen. Als der Zug Richtung Grenzübergang kommt, ertönt ein neuer Ruf: „Nicht drängeln, ihr kommt schon alle rüber.“ Als jemand den Jungen prüfend anguckt, prustet der zurück: „Keine Angst, ich komme zurück. Ich stehe zu meinem Land.“

Dorothea Hahn