„Die Mauer können se mitnehmen“

Seit Samstag lebt die taz-Redakteurin zwischen zwei Grenzübergängen / Massenandrang in Kreuzberger Billigläden / Gute Stimmung herrscht auf den Straßen / „Unterdrückung auch hier!“ / Die Szene ist voll dabei  ■  Aus Kreuzberg Beate Seel

Schlesische Straße, Samstag vormittag: neue Töne, fremde Dialekte. Am Fußgänger-Grenzübergang Oberbaumbrücke stauen sich die Menschenmassen. Die einen drängen mit Plastiktüten voller Obst und Lebensmittel schon wieder raus, andere kommen erst an. Dichte Menschentrauben über zwei Querstraßen hinweg vor den Eingängen der U-Bahn, lange Schlangen vor den Banken und der Post. Verkehrsregeln sind außer Kraft gesetzt, die Straßen gehören den Fußgängern und Radfahrern.

Die Alternativ-Apotheke um die Ecke bietet eine Orientierungshilfe: Da hängt der Kreuzberger Kiezplan, mit schwarzem Filzstift sind Standort, Grenzübergänge, Banken und Post markiert. Um die Wrangelstraße ein großer Kreis, daneben: „Einkaufen?“ Das Fragezeichen erweist sich als überflüssig. Die Schlangen vor den Supermärkten reichen bis auf die Straße, großer Andrang vor Second-hand- und türkischen Billigläden, Obst- und Gemüsegeschäften. Ein Junge deutet auf eine Kiste Auberginen: „Was ist das?“ Da muß auch der Vater passen. Plastikpullis für zwanzig Mark, türkischer Nippes, Feuerzeuge finden reißenden Absatz. In der Kirche gibt's Kaffe und Stullen umsonst, auch davor eine lange Schlange. Die ersten Straßenhändler tauchen auf, ein Türke hat eine Bank zu einem Stand umfunktioniert und verkauft Dosen mit Erfrischungsgetränken und Bier. Lediglich im Ökoladen läuft der Betrieb einigermaßen normal.

Die Stimmung ist gut, immer wieder offene Fenster, aus denen Musik dröhnt, Freaks, die ihre Stereo-Anlagen auf den Balkon geräumt haben, vor in den Straßen, in denen die Besucher Schlange stehen. Der Massenandrang hat der Szene nicht die Sprache verschlagen, die ersten Transparente Kreuzberger Prägung sind aufgetaucht. „Im Westen nix Neues“ steht auf einem Streifen Packpapier im Fahrradladen; „Kampf dem Smog - autofreie Stadt“ und „Unterdrückung auch hier“ heißt es an einem Haus in der Oranienstraße. Ein Stück weiter: „Neues Forum West - gegen die Diktatur des Kapitals! Internationale Revolution!“ Parolen an einer Fassade, die den „Sieg des kurdischen Befreiunsgkampfes“ herbeischreiben, sind ergänzt worden: „Hoch die DDR! Internationale Solidarität!“

„Echt geil, was die Ossis da machen“, kommentiert ein Schwarzgekleideter mit bunt gefärbten Haaren, um schleunigst hinzuzufügen, daß man darüber aber den Kampf gegen das hiesige System nicht vergessen dürfe. Der schönste Spruch stammt freilich aus vergangenen Zeiten und hat unversehends neue Aktualität erhalten: In der Köpenicker Straße, direkt hinter einer Schlange OstberlinerInnen, die vor einer Bank warten, steht in schon verblaßten Lettern: „Macht eure Revolution zu Hause, TouristInnen!“

Nachmittags klafft am Ende der Schlesischen Straße ein Loch in der Mauer: ein neuer Übergang. Schon am Morgen, als der Bagger noch in Aktion war, hatten OstberlinerInnen auf der anderen Seite angestanden. Kinder klopfen mit Pflastersteinen auf die Mauer ein, wollen ein Stück davon als Souvenir mitnehmen. Im Niemandsland stehen die herausgeschlagenen, bunt bemalten Mauersegmente: das erste, unfreiwillige Mauerdenkmal. Auf die Frage an einen Grenzpolizisten (Ost), was die DDR nun damit machen wolle, ist der um eine Antwort nicht verlegen: „Die Mauer können se mitnehmen!“