Die DDR-Opposition unter Zugzwang

Die verschiedenen Gruppen sind vom Tempo der Entwicklung in der DDR überrollt worden / Warnung vor allzuschnellen Wahlen / Keine klare Vorstellungen über zukünftige Rolle der Gruppen und Wirtschaftsreform  ■  Von Michael Rediske

Berlin (taz) - Zumindest eins hat die SED mit dem Öffnen des Betonwalls, der Ankündigung „freier, gleicher und geheimer Wahlen“ und ihrem eigenen personellen Chaos bewirkt: Sie hat die Opposition unter Zugzwang gesetzt. Seit zwei Monaten erst existiert das Neue Forum, die Sozialdemokratische Partei ist noch jünger.

Und so sind die oppositionellen Gruppen sich an diesem Wochenende vor allem in einem einig: Der Eilzug in Richtung Wahlen muß erst einmal gebremst werden, denn, so drückt es Bärbel Bohley aus: „Bei sofortigen Neuwahlen würden wir den kürzeren ziehen. Wir haben wenig profilierte Leute. Wir müssen uns Zeit nehmen, bis wir Alternativen haben.“ Ähnlich Sabine Leger, Vorstandsfrau bei den Sozialdemokraten (SDP) im taz-Interview (siehe Seite 8): „Wir wären noch gar nicht in der Lage, Regierungsverantwortung zu übernehmen.“ Und die Vereinigte Linke, ein Zusammenschluß von Gruppen „sozialistischer Tendenz“, darunter auch SED-Mitglieder von der Basis, konnte am Samstag gerade mal ihren Sprecherrat vorstellen und ein DDR-weites Treffen für Ende des Monats ankündigen.

Bei den unabhängigen Studentenräten schließlich (siehe Artikel Seite 6) mußte sich am Wochenende ein Treffen von 28 Hochschulen erst mal darüber einigen, ob man eher eine Clearing-Stelle für Informationen braucht oder eine zentrale Interessenvertretung gegenüber dem Staat. Ergebnis: Ein „Zentrales Informationsbüro“ wird gegründet.

Immer noch sind die Kommunikationswege lang, gedruckt wird mühsam per Wachsmatrize, Kontaktadressen werden von Hand zu Hand gereicht, und nur wenige lokale Gruppen haben bislang staatliche Räume zugewiesen bekommen - im übrigen eine der Sofortforderungen aller. Absprachen unter den Gruppen gibt es bisher kaum, der Leipziger Aufruf aller Oppositionsgruppen für eine „Koalition der Vernunft“ (dokumentiert auf Seite 7) könnte ein erster Anfang sein. Sofortige Zulassung aller Gruppen und der SDP, Beteiligung an der Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes, Zugang zu den Medien und Volksentscheid über Neuwahlen - darauf können sie sich noch leicht einigen. Sie gehen ausnahmslos von der Zweistaatlichkeit Deutschlands aus, und auch wenn noch niemand die Folgen der Maueröffnung überblicken kann, drücken an diesem Wochenende viele ihre Angst aus, von der Bundesrepublik einfach wirtschaftlich überrannt zu werden.

Doch klare Vorstellungen, wie eine Wirtschaftsreform aussehen könnte, haben sie alle nicht. Die Vereinigte Linke diskutiert nach eigenen Angaben noch kontrovers über die künftige Rolle des Marktes, das Neue Forum streitet - bisher intern - noch darüber, ob die DDR-Mark konvertibel gemacht werden soll (was eine Währungsreform voraussetzen würde).

Angesichts des Vakuums, das SED und der Gewerkschaftsverband FDGB überall hinterlassen haben - in den Betrieben wie in Hochschulen, in der Volkskammer wie auf Kreisebene -, merken die Oppositionsgruppen jetzt, daß sie ihre Rollen gar nicht so schnell definieren können, wie die Ansprüche an sie steigen. Das Forum gründet schon Betriebsgruppen - explizit als Alternative zur bestehenden Gewerkschaft, organisiert sich aber gleichzeitig auf Wahlkreisebene. Die Vereinigte Linke dagegen ist sich noch nicht klar, ob sie eine Reform des FDGB oder neue Gewerkschaften unterstützen will.

Solange die eigene Rolle nicht definiert ist, bleibt der Opposition nur eins: jede Regierungsbeteiligung abzulehnen. „Wir dürfen nicht den Fehler machen“, sagte Rolf Henrich am Samstag, „Verantwortung für den Trümmerhaufen zu übernehmen.“ Statt dessen wird die Opposition weiter auf die Straße gehen. Zum Abschluß des schon zur Tradition gewordenen Leipziger „Sonntagsgesprächs“ hat gestern auch der Chef des Gewandhausorchesters, Kurt Masur, seine MitbürgerInnen aufgefordert, die Reform mit Demonstrationen „weiter in die richtige Richtung zu lenken“.