Das SED-Programm wird den Parteitag nicht überstehen

Der Versuch des am Freitag zu Ende gegangenen ZK-Plenums, die Führungsstruktur der Partei zu stabilisieren, ist gescheitert / Sonderparteitag im Dezember / Aktionsvorschläge sehen Neues vor, doch die Basis will mehr / Orientierungslosigkeit bei der Wirtschaftsreform / Schutz vor Ausverkauf durch Touristen geplant  ■  Von Matthias Geis

Berlin (taz) - Es ist bezeichnend für die ungebrochene Dynamik des Umbruchs in der DDR, daß wesentliche Entscheidungen des dreitägigen ZK-Plenums der SED nicht wie früher üblich - im voraus festgelegt werden konnten, sondern erst im Laufe der Tagung eingebracht und entschieden wurden. Das Plenum, sonst weitgehend abgeschirmt von Stimmungen und Forderungen der Parteibasis, mußte am Freitag auf Druck von unten, der sich in einer Spontandemonstration vor dem ZK-Gebäude Luft machte, der Einberufung einer Parteikonferenz für Mitte Dezember zustimmen. Doch auch diese spektakuläre Entscheidung war nicht von Dauer. Schon am Sonntag nachmittag sah sich das Politbüro genötigt, der weiterreichenden Forderung der Parteibasis nach Einberufung eines außerordentlichen Parteitages stattzugeben. Damit ist erneut die Kompromißstrategie der Parteiführung gescheitert. Mit der Abhaltung der Parteikonferenz sollten grundlegende Entscheidungen personeller Art hinausgezögert werden, die dem Parteitag vorbehalten sind. Jetzt steht bereits im Dezember, nicht wie geplant, erst im Mai nächsten Jahres, die Neuwahl des Zentralkomitees und damit auch eines Politbüros an.

Dennoch gelang es der neuen Parteiführung, das vom Plenum verabschiedete Aktionsprogramm in dem Rahmen zu halten, den Krenz in seiner überraschenden Fersehansprache vom 3. November vorgestellt hatte. Die Grundlinien einer Reform des politischen Systems als Kernstück der Wende bleiben auch in der vom ZK verabschiedeten Fassung in wesentlichen Punkten äußerst schwammig. Unschwer auszumachen ist die Hoffnung der Parteispitze, durch mangelnde Konkretion Spielräume für die Verteidigung der Führungsrolle der SED offenzuhalten. Beinhaltet das politische Reformprogramm - etwa mit der Festlegung auf freie Wahlen oder der Möglichkeit einer Koalitionsregierung - grundlegend neue Perspektiven, so fehlen diese bei den Forderungen nach einer ökonomischen Umgestaltung völlig.

Immerhin bleibt positiv zu vermerken, daß sich die Partei in ihrer Analyse der neuen politischen Situation zu einer ideologisch unverstellten Einschätzung durchgerungen hat. Der noch bis Anfang November aufrechterhaltene Mythos einer von oben initiierten Wende ist endgültig dahin. Stattdessen erkennt auch das Aktionsprogramm an, daß „eine revolutionäre Volksbewegung einen Prozeß gravierender Umwälzungen in Gang gesetzt“ hat. Der „friedliche Massenprotest“ steht jetzt an erster Stelle, wenn es um die Einschätzung der reformtreibenden Momente geht. „Viele politische Organisationen“ einschließlich kirchlicher Kreise sowie der Druck der Parteibasis haben die Wende auf den Weg gebracht. Erst an letzter Stelle macht das Aktionsprogramm „Lernprozesse in der Parteiführung“ dafür verantwortlich, daß jetzt die erstarrten politischen Strukturen aufgebrochen werden. Bezeichnend ist auch die Übernahme einer Formulierung der parteiinternen Reformgruppe an der Humboldt -Universität, die eine „Konzeption für einen modernen Sozialismus“ fordert.

Das Aktionsprogramm gibt keine explizite Antwort auf die Frage nach dem Führungsanspruch der Partei. Jedoch finden sich unter dem Stichwort „Reform des politischen Systems“ immer wieder Formulierungen, die zumindest auf eine Modifizierung ihrer bisherigen Rolle hindeuten. Das Aktionsprogramm spricht von einem „gleichberechtigten Bündnis“ mit allen demokratischen Kräften des Landes. Es entwirft die Perspektive einer „demokratischen Koalitionsregierung“ und nimmt damit die Forderungen der sich emanzipierenden Blockparteien auf. Mit der Formulierung „freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahlen“ wird die längst überfällige Reform des Wahlgesetzes angekündigt. Die Trennung, zumindest aber die Entflechtung von Staat und Partei scheint beschlossene Sache. Darauf deutet auch der Vorschlag des ZK hin, den Parteireformer Modrow zum künftigen Regierungschef zu wählen. Modrow hätte sich wohl schwerlich damit abgefunden, an der Spitze einer in allen wesentlichen Entscheidungen von der Partei abhängigen Marionettenregierung zu stehen. Der Machtzuwachs staatlicher Organe wie der parlamentarischen Vertretungen ist programmiert. Mehr als bloß neuen Stil verrät auch die gemessen am bisherigen Habitus äußerst bescheidene Formulierung, die SED wolle „ihren Beitrag einbringen in eine breite Bewegung, die alle gesellschaftlichen Kräfte auf gleichberechtigter Grundlage“ in die zukünftige Gestaltung miteinbezieht.

Vor dem Hintergrund solcher Versprechungen läßt sich der Führungsanspruch der Partei kaum mehr begründen. Dennoch vermeidet es die SED auch weiterhin, die Änderung der Verfassung als notwendigen Reformschritt zu benennen. Noch immer liest sich die einschränkende Bemerkung „auf der Grundlage der Verfassung“ als versteckter Hinweis auf die Führungsrolle. Die Einführung des Verfassungsgerichtshofs ist zwar ein notwendiger Schritt, um die Aushöhlung der Verfassung durch Gesetze und Verordnungen zu korrigieren; doch an der Grundstruktur des Systems wird diese Institution nichts ändern.

Die wirtschaftlichen Reformschritte des Aktionsprogramms gehen über allgemeine Bekundungen nicht hinaus. Die Zielsetzungen der Reform orientieren sich deutlich an den gesellschaftlichen Forderungen nach besserer Versorgung mit Konsumgütern. Neu ist die Perspektive einer „an den Marktbedingungen orientierten sozialistischen Planwirtschaft“. Konkretion findet sich nur in marginalen, wenn auch populären Forderungen wie dem Abzug der Bezirksbaukollektive aus der Hauptstadt oder dem Schutz des Binnenmarktes vor dem Ausverkauf an ausländische Touristen. Offensichtlich ist die Orientierungslosigkeit in der Frage der Wirtschaftsreform bei Opposition und Partei gleichermaßen groß.

Als Gegenkonzept zur Initiative für unabhängige Gewerkschaften wird die Rolle des FDGB neu definiert. Er soll nicht mehr als Transmissionriemen der Parteipolitik, sondern als selbständige Vertretung der Interessen der Arbeiter fungieren.

Im Bereich der Kulturpolitik ist die Abschaffung der Genehmigungspflicht von Publikationen und Theateraufführungen der deutlichste Ausdruck der neuen Politik. Im Bildungsbereich steht die Ausarbeitung neuer Lehrpläne, insbesondere in den Fächern Geschichte, Deutsch und Staatsbürgerkunde ebenso auf dem Programm wie die Abschaffung des Wehrkundeunterrichtes.

Das Spiel der letzten Wochen, bei dem die Führung gerade gefasste Entscheidungen wieder korrigieren mußte, weil sie von der gesellschaftlichen Entwicklung längst überholt waren, geht weiter. Unschwer zu prognostizieren, daß auch die Ungereimtheiten und vagen Perspektiven des jetzt verabschiedeten Aktionsprogramms schon bald ausgeräumt bzw. präzisiert werden. Ansonsten würden alle Strategien zur Rückgewinnung von Glaubwürdigkeit und gesellschaftlicher Legitimation scheitern.

Gemessen an der bisherigen Politik ist jeder Einzelpunkt des Reformprogramms eine Sensation. Gemessen an den gesellschaftlichen Erwartungen und dem Druck, mit dem sie eingebracht werden, ist das Aktionsprogramm nach wie vor unzureichend. Es ist nicht schwer zu prognostizieren, daß es den gestern beschlossenen Parteitag in der jetzigen Form kaum überstehen dürfte.