Getanzte Schule des Sehens

■ TanzkritikerInnen-Seminar der Tanzwerkstatt Bremen / In Worte fassen, was sich bewegt

„Man darf nicht vergessen, daß die erste Bedingung, die eine Tänzerin erfüllen muß, die Schönheit ist. Sie hat überhaupt keine Entschuldigung, nicht schön zu sein, man könnte ihr ihre Häßlichkeit zum Vorwurf machen wie einer Schauspielerin ihre schlechte Aussprache.“ So schrieb Mitte des neunzehnten Jahrhunderts der französische Romancier Theophile Gautier, von dem bekannt ist, daß er den drei damals bekanntesten romantischen Ballerinen „mit einer gewissen Verliebtheit“ verfallen war und darüber zum eigentlichen Begründer der Tanz-und Ballettkritik wurde.

Auf diese Tradition mochten sich die ausschließlich weib

lichen Teilnehmerinnen eines Seminars zur Tanzkritik anno 1989 in Bremen nur mit einem Schmunzeln berufen. Sie waren am vergangenen Wochenende auf Einladung der Bremer Tanzwerkstatt trotz stundenlanger Staus aus verschiedenen Ecken der Republik gekommen, um das schier Unmögliche zu versuchen: Tanz zu be-schreiben, Körperbewegungen in Worte zu fassen, zu sehen, was keine zu sehen gelernt hatte und den KünstlerInnen auf der Bühne gerecht zu werden. Die Flucht nach vorne wollten sie antreten, aus der Scheu, die Inszenierungen etablierter Bühnen zu beurteilen oder aus dem Unwissen, über choreografische Zu

sammenhänge mit vielen schönen Worten um sich zu schreiben. Und das mit dem Gefühl, etwas Wesentliches nicht zu treffen.

Malve Gradinger, erfahrene Tanzkritikerin, war aus München gekommen und faßte in Worte, was viele aus eigener Erfahrung kannten: „Tanz am nächsten Morgen wieder in Worte fassen zu müssen, das ist jedes Mal wie ein kleines Krepieren. Aber es ist auch wunderschön.“

Und um an diesem besagten Morgen ein bißchen auf dem Boden zu landen, führten Malve Gradinger und Susanne Schlicher von der Tanzwerkstatt zunächst einmal Handwerkszeug vor. Mit einer Videoaufzeichnung von

Pina Bauschs „Walzer“ und Rezensionen vom kleinen Ruhrblättchen bis zur „Zeit“ waren die Teilnehmerinnen auf der Suche nach Kategorien, die Tanz be-schreibbar machen: da hangelte man sich von Formelementen bis zur Dramaturgie, bedachte Inhalte und deren Wirkung auf der Bühne, analysierte Szenenübergänge, entdeckte Leitmotive und Stilmittel, und dachte am Ende: da war doch noch etwas? Die Musik hatte man vergessen! Auch der Kopf einer Kritikerin ist nur begrenzt aufnahmefähig.

Beruhigend war da immer wieder Malve Gradinger, die sich nicht scheute, Strukturen vorzugeben, den gehobenen Kaffeeklatsch zu erlauben, und damit drei Tage lang eine dichte, konzentrierte und oft ganz praktische Atmosphäre schuf.

Einen Hauch von Tanzgeschichte und choreografischer Arbeit brachte Anna Markart in den fenster-und sinneslosen Raum der Uni. Anna Markarts Vater, der Tänzer und Choreograph Kurt Jooss, hatte 1932 den „Grünen Tisch“ uraufgeführt. Ein faszinierendes Stück expressionistischen Ausdruckstanzes, das heute als das weltweit meistgetanzte moderne Ballett gilt: Geschichte eines Krieges, in dem der Tod die Hauptrolle spielt. Der erstmalige Einsatz von dramatischem Licht im Tanz und eine Klavierkomposition von F.A. Cohen, die zeitgleich mit der Choreografie entstand. Anna Markard arbeitete noch zehn Jahre zusammen mit ihrem Vater und hat heute alleine das Recht, den grünen Tisch zu inszenieren, egal wo auf der Welt er ins Reper

toire aufgenommen wird. Und, sie ist eine Lady. Sie ist eine Frau, die bescheiden und doch ihrer Sache sicher, die erfolgreich und doch so wenig hart, die so weiblich ist, eine Lady eben.

Mit Videoaufnahmen von drei verschiedenen Tänzern, die im Abstand von z.T. zwei Jahrzehnten das „Solo des Todes“ im „Grünen Tisch“ tanzten, führte Anna Markart ein in die Schule des Sehens, beschieb ihre Arbeit mit verschiedenen Kompagnien und trat, wenn ihr die Worte fehlten, in die Mitte des Raumes um dort, mir nichts, dir nichts, eine Sequenz vorzutanzen. In dieser Bewegung schließlich fand Anna Markard dann Worte, bei denen jede Schreiberin nur ihren Stift spitzen kann.

Sicher ist es kein Zufall, daß die meisten Teilnehmerinnen selbst begeisterte Tänzerinnen sind oder es als kleines Mädchen schon immer mal werden wollten.

Vera Kuenzer