Mit dem Rücken zur Wand

■ Auf das gallische Dorf im Kreuzberger Kiez kommen mit der Öffnung der Mauer harte Zeiten zu

Es ist wie ein Angriff aus einer völlig unerwarteten Ecke: Die Öffnung des Übergangs Lohmühleninsel im hintersten Kreuzberg symbolisiert eine Veränderung, an der die Kreuzberger noch lange zu knabbern haben werden. Die Ecke zwischen Fischerkahn, Karpfenzucht und Spreeschleuse war bislang einer der idyllischten und lauschigsten Flecken, die der unbedarfte Westbesucher und selbst viele Berliner überall erwartet hätten, nur nicht hinter dem Schlesischen Tor. Nun ist seit vergangenen Samstag die Einfallschneise einer neuen Zeit geschaffen worden und damit das erste Zeichen, daß dieser Kiez nie mehr so sein wird, wie er einmal war.

Kreuzberg SO36 - das war in den Jahren nach dem Bau der Mauer der wirkliche Arsch West-Berlins, der Ort, mit dem keiner etwas zu tun haben wollte. Das hat das Verhältnis aller Senate zu diesem Stadtteil geprägt, das hat aber auch die ganz spezifische Mischung hervorgebracht, in der die Emotionen bloßliegen und der Widerstand jederzeit bereit ist. Mit dem Rücken zur Mauer wurden die Bewohner im Namen eines vermeintlichen Fortschritts zum Opfer einer erbarmungslosen Kahlschlagsanierung auserkoren. Anfang der siebziger Jahre wurden große Teile der arbeitsfähigen Bevölkerung ins Märkische Viertel oder in die Gropiusstadt verschubt, zurück blieben die Alten und die sozial Schwachen. Beglückt wurde der Bezirk mit elenden Sozialmonstern wie dem Neuen Kreuzberger Zentrum zum Wohle der Spekulanten und Sanierungshaie. Riesige Flächen sollten ganz abgeräumt werden und einer Autobahn Platz machen.

Daß es anders kam, war der Kreuzberger Glücksfall: Aus dem am stärksten überalterten Bezirk der Stadt wurde durch den Zuzug von Wessis und Ausländern der jüngste und lebendigste Ort Berlins. Aus der Abwehr von Autobahnbau und Sanierungsmafia erwuchs zugleich ein Widerstandspotential und das Bewußtsein von der Notwendigkeit des ständigen Kampfes um den eigenen Kiez, wie er sonst in dieser Stadt unbekannt ist. Das hat zu Erfolgen geführt, das hat aber auch seine Schattenseiten hervorgebracht. Wenn global denken, lokal handeln irgendwo seine Ausprägung gefunden hat, dann dort hinten in dem gallischen Dorf. Diese Bewußtseinslage konnte sich nur dort entwickeln und hat im Laufe der Jahre fast paranoide Züge angenommen. Die periodische Selbstzerstörung des Kiezes ist deshalb eher als psychische Reaktion denn als politische Perspektive zu verstehen. Gelebt wurde in den langen Jahren immer mit dem Gefühl, man stehe mit dem Rücken zur Wand.

Und nun fällt die auch noch weg. Es ist ein historischer Treppenwitz, mit der Öffnung der Mauer nun gerade an eine der zentralen Auseinandersetzungen der letzten Jahre zu erinnern: an den Bau der Kita auf dem Gelände des Kinderbauernhofs an der Adalbertstraße. Mit welcher Häme sind jene gescholten worden, die sich einer Errichtung der Kita mitten auf der Straße vor der Mauer mit dem Argument widersetzten, die Straße werde bei einer Öffnung der Mauer gebraucht. Damals ahnte wohl niemand, daß dies so bald Realität werden könnte. Das ist nur ein Indiz. Die Kiezbewohner spüren die Veränderung, die ihnen da droht. Unmut wird vereinzelt schon geäußert, daß man nicht deshalb die eigene Welt gerettet habe, um nun von Ostlern überrollt zu werden. Mancher wittert, daß die handgedrechselte Idylle gegen eine neue Zeit und neue Fragen nicht bestehen kann. Das Zerrbild von der eigenen Bedeutung wird von einem kräftigen Luftzug aus der geöffneten Tür im Rücken verweht werden. Wenn Kreuzberg wieder zum Zentrum wird, wird auch der Kiez aufgerollt: Die Wende fordert auf beiden Seiten ihre Opfer. Am Sonntag konnten sich die Autonomen bei einer Demonstration am Kudamm anhören, sie sollten nach drüben gehen. Das wird weitergehen. Auf das gallische Dorf kommen schwere Zeiten zu.

Gerd Nowakowski