Gemeinsam gegen das „Gewissen der Nation“

■ Hunderttausende demonstrierten gegen den Versuch der US-Regierung, Abtreibung zu kriminalisieren

George Bushs fundamentalistischer Feldzug gegen das Recht auf Abtreibung brachte am Sonntag in Washington D.C. rund 200.000 Menschen dreier Generationen auf die Beine: Mütter und Töchter demonstrierten gemeinsam für Abtreibungsfreiheit. Bushs Veto gegen die Mehrheitsentscheidung des Kongresses, mittellosen Opfern von Vergewaltigung und Inzest kostenlos den Abbruch zu gewähren, sichert ihm zwar die Unterstützung der Anti-Abtreibungslobby und der „moral majority“. Die jüngsten Niederlagen der Abtreibungsgegner sogar in konservativen Bundesstaaten jedoch erinnern den Präsidenten an rein rechnerische Wahrheiten: Sie könnten auch für seine Wiederwahl Signalfunktion haben.

„Politisch aktiv, ich?“ Die Frau lacht. „Nein“, meint sie, „ich war immer auf unserem Hof, habe meine Familie versorgt und die Kranken in der Nachbarschaft. Und die Tiere, viele Tiere.“ Am Sonntag aber steht sie, die ihren Namen nicht nennen möchte, in ihrem dicken braunen Wintermantel bei sommerlichen Temperaturen in Washingtons Innenstadt und demonstriert für Abtreibungsfreiheit. Sie ist 65 und kann sich an die schlimme Zeit vor 1973 genau erinnern, an die Zeit, als Abtreibungen in den meisten Bundesstaaten der USA noch nicht legalisiert waren und Frauen an den Folgen illegaler Abtreibungen starben. „All das“, erklärt sie energisch, „muß Vergangenheit bleiben.“

Ihre beiden Töchter, selbst schon Mütter, sind mit ihr nach Washington gekommen. Die eine, Sozialarbeiterin, schimpft auf die soziale Ungerechtigkeit im Falle einer Einschränkung der Abtreibungsfreiheit. Wohlhabende Frauen, das weiß auch ihre Mutter noch von früher, werden immer einen Weg finden, sicher abzutreiben. Jede Frau aber sollte selbst entscheiden dürfen, ob sie Kinder haben will oder nicht. Die andere Tochter arbeitet im Studentenwerk einer großen Universität. Sie ist überzeugt, daß die Abtreibungsdebatte eine immer größere politische Rolle spielen wird. Die Studentinnen und Studenten an ihrer Hochschule, so betont sie, wachten endlich auf und begriffen, daß eines ihrer fundamentalen Rechte in Gefahr ist.

Mutter und Töchter sind in festlicher Stimmung. Für sie wie für die anderen annähernd 200.000 an diesem Tag ist es die erste Demo, an der sie teilnehmen - eine Riesenfete vor dem Lincoln-Denkmal. Die Musiker allerdings sind Veteranen des Protests: Pete Seeger zupft wie schon ein halbes Jahrhundert sein Banjo, und Mary Travers von Peter, Paul und Mary singt kämpferische Lieder - wie damals, als man in der Bundeshauptstadt gegen den Vietnamkrieg demonstrierte; damals, als man niemandem über dreißig traute, als der „generation gap“, der Generationenkonflikt, in aller Köpfe und Munde war.

An diesem Sonntag protestieren zwei, manchmal drei Generationen gemeinsam. Immer wieder richtet sich der Blick auf Mütter-Töchter-Gespanne - leicht erkennbar an den ähnlich geschwungenen Augenbrauen, dem gleichen Lachen, den gleichen Stupsnasen. Oft waren die Mütter die treibende Kraft, die das Gespann nach Washington brachte. Lisa Voss, 29 Jahre alt und Buchhalterin, arbeitet seit mehreren Jahren in verschiedenen Frauenorganisationen für Abtreibungsfreiheit: „Mein Engagement in dieser Sache verdanke ich meiner Mutter“, meint sie. „Von ihr habe ich gelernt, immer meine Meinung zu vertreten, mich für Gerechtigkeit für alle einzusetzen.“ „Und nichts ist ungerechter als die Einschränkung der Abtreibungsfreiheit“, pflichtet Silvia Voss, 53, ihr bei.

Silvia erinnert sich genau an die schreiende Ungerechtigkeit früherer Jahre. Eine Kommilitonin starb an den Folgen eines illegalen Schwangerschaftsabbruchs. Ihre Tante, Mutter von sechs kleinen Kindern und Frau eines Alkoholikers, verblutete nach einem Abbruch auf dem Rücksitz eines Taxis. „Nicht nur zukünftigen Generationen gegenüber haben wir die Verpflichtung, dieses Recht zu erhalten“, ergänzt Lisa, „wir schulden es auch unseren Müttern und Großmüttern.“

Ganz in diesem Sinne wird an diesem Tag den Müttern und Großmüttern, Freundinnen, Tanten und Schwestern gegenüber dem prestigeträchtigen Lincoln Memorial ein Denkmal aus Holz gesetzt. 200.000 Frauen sollen in den USA an den Folgen einer illegalen Abtreibung gestorben sein - soviel, wie sich hier heute zwischen den Denkmälern zusammengefunden haben eine Menschenmasse in Lila und Weiß, mit Bannern, Plakaten, Kindern und Picknick-Körben.

Nicht nur in Washington wurde am Sonntag demonstriert. In insgesamt 120 Städten der USA fanden die verschiedensten Veranstaltungen statt, um die Politiker auch in den hintersten Ecken der USA wissen zu lassen: Das Recht auf Abtreibung lassen sich die Frauen nicht nehmen. „Wollt ihr Politiker dieses Recht einschränken“, verkündete Faye Wattleton von „Planned Parenthood“, „dann müßt ihr gehen.“ Faye Wattleton sprach die Drohung in Louisiana aus, in einem der konservativen Südstaaten, wo es Bewegungen gibt, Abtreibungen zu kriminalisieren.

Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang sollte dieser Tag „nationwide“ dem Kampf für die Abtreibungsfreiheit gehören. Bereits in den frühen Morgenstunden begannen mit einer Mahnwache in Kennebunkport an der Atlantikküste des Bundesstaates Maine, wo Präsident George Bush ein Wochenendhaus besitzt, die Aktionen. Protestkundgebungen an der Pazifikküste in Kalifornien beschlossen dann den Tag.

Ann und Scott Engelhart wollten, obwohl sie im Osten lebt und er in Kalifornien, zusammen protestieren. Er ist Student und hat in Los Angeles gesehen, wie militante Abtreibungsgegner Frauenkliniken blockierten. „Das ist eine Einschränkung der persönlichen Freiheit, gegen die ich mich seither aktiv engagiere“, vertritt er seinen Standpunkt.

Susan, seine Mutter, hat vor vielen Jahren selbst eine schreckliche illegale Abtreibung durchgemacht. Was das für ein Gefühl sei, wenn Mutter und Sohn sich gemeinsam für eine Sache einsetzen und auf die Straße gehen? „Etwas ganz Neues“, kommt die Antwort im Chor, „eine ganz tolle Erfahrung.“

Silvia Sanides