Schießbefehl endgültig aufgehoben

DDR-Verteidigungsminister läßt auch Grenzanlagen ausdünnen / Befehl war auch bei Grenzern umstritten  ■  Von Erich Rathfelder

Berlin (taz) - 50 oder noch 100 Jahre gab Erich Honecker dem Bestehen der Mauer, und das vor noch nicht allzulanger Zeit. Als der noch amtierende DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler am Sonntag abend vor die Kameras im DDR-Fernsehen trat, und den „Gebrauch der Schußwaffen“ an der Staatsgrenze der DDR ablehnte, war Honeckers Vision schon längst zusammengebrochen. Die Grenztruppen, so Keßler, hätten „alles in ihren Kräften stehende zu tun, damit die Staatsgrenze von niemandem verletzt wird und die zu diesem Zweck eingerichten Grenzanlagen nicht zerstört werden“. Die Bilanz der Tätigkeit der DDR-Grenzorgane mit Schießbefehl seit 1961 beläuft sich auf 191 ermordete Flüchtlinge.

Der Schlußstrich ist gezogen. Mit sofortiger Wirkung werden die Sperrzonen an der Berliner Mauer und entlang der innerdeutschen Grenzen aufgehoben. Das Ostberliner Verteidigungsministerium erklärte am Montag: „Alle im Schutzstreifen liegenden Ortschaften, Ortsteile, Betriebe und Einrichtungen sind damit nicht mehr Grenzgebiet, und der freie Zugang zu ihnen ist gewährleistet.“ Ganz einfach. Die Grenzanlagen werden von innen reduziert.

Damit zieht die Staatsführung endlich Konsequenzen aus einer Entwicklung, die sich schon vor der Revolution vom 9. November angedeutet und dem Verteidigungsministerium einige Kopfschmerzen bereitet hatte. Denn mehr und mehr wollten die Grenzsoldaten in den letzten Jahren und vor allem Monaten nicht mehr einsehen, den Kopf für eine sinnlose Politik hinzuhalten. Nur noch zehn bis 15 Prozent aller Flüchtlinge versuchten in den letzten zehn Jahren, über die Staatsgrenze zu fliehen. Die meisten zogen die Flucht über Drittländer vor. Mit zunehmender Offenheit wurde deshalb auch bei den Grenztruppen über die Sinnlosigkeit der Grenze gesprochen. Dies erzählten einige der 14 in diesem Jahr geflüchteten Soldaten der DDR-Grenztruppen bei einer öffentlichen Veranstaltung der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“. Niemand habe Lust, von der Bevölkerung als „Killer“ angesehen zu werden, gaben diese die Stimmung in der Truppe wieder.

Um dieser Stimmung entgegenzuwirken und „außenpolitischen Schaden“ zu begrenzen, wurde schon seit dem Februar 1987 der Gebrauch der Schußwaffe auf jene Fälle eingegrenzt, bei denen keine anderen „Hilfsmittel“ zur Verhinderung der Flucht erfolgreich waren. Als am 5. Februar der Flüchtling Chris Gueffreoy von 39 Schüssen getroffen und getötet wurde, stand die DDR-Führung wieder am Pranger der Weltöffentlichkeit. Deshalb wurde am 6. April 1989 die Anwendung der Schußwaffe weiterhin eingeschränkt und sogar unter Strafe gestellt. Ab diesem Zeitpunkt galt der Schießbefehl nur noch im Falle eines „Angriffs auf das eigene Leben“ oder wenn die Flüchtenden zum Beispiel in einem schweren Lastwagen versuchen sollten, die Grenzanlagen zu durchbrechen.

Seit gestern können also die Grenztruppen ausgedünnt, der 155 km lange „Ring um Berlin“ dem Verfall anheim gegeben werden. Im Zeitalter von Glasnost ist zudem zu erwarten, daß bald die Kosten des Schutzwalls aufgedeckt werden. Und dann wird die DDR-Bevölkerung endlich wissen, mit wievielen Steuergeldern sie für die Begrenzung ihrer eigenen Freizügigkeit zu zahlen hatten.