Wenn Bürgerinnen selber denken

■ LerserInnen-Notizen aus dem wortfreien Raum

Am Montag forderten wir hier auf dieser Seite angesichts der galoppierenden journalistischen Kommentierwut als kulturelle Sofortmaßnahme BürgerInnen auf, selber zu denken, wofür wir „Raum für eigene Notizen“ zur Verfügung stellten. Heute wollen wir den Wortlaut der ersten an uns zurückgeschickten ausgefüllten Zeitungsbögen dokumentieren:

Eine GUTE Idee!

Klar - zuerst sprachlos, dann euphorisch und heute, Montag: „Ich freue mich auf die Arbeit, die in den kommenden Monaten und Jahren auf uns zukommt.“

Anm: Ich bin auf dem Sektor „Umweltanalyse“ tätig und nebenbei im Bereich Alternative Energiesysteme.

Und: Noch einen herzlichen Gruß an dei BVG, die BSR und an alle Fahrradfahrer aus Ost und West! Danke schön!!

Euer Achmed Khammas, Berlin 30

Auf daß die taz (noch) etwas spontaner und großzügiger wird!

Samstag mittag. Max sitzt auf'm Klo und fordert unüberhörbar, daß ich doch endlich seinen Hintern abwischen soll. Während er seiner gerechtfertigten Forderung, mittlerweile im Stakkato und laut schreiend, Ausdruck verleiht, klingelt's an der Tür. Am Haustelefon kann ich nicht verstehen, wer da zu uns will. Ich betätige den Türdrücker, lasse die Wohnungstür angelehnt, um der unerbittlichen Forderung unseres Dreikäsehochs nachzukommen. Max ist zufrieden, rennt fort, er weiß wohin. Ich gehe zur Wohnungstür, um zu sehen, wer zu uns will. Je, nein! das darf doch nicht... - Ich ahnte es. Ich erwartete es, besser hoffte es seit Donnerstag nacht. Hendrik aus Potsdam kommt die Treppe hoch, Stufe für Stufe. Kein Trockeneis. Keine Kapelle. Kein Blitzlicht. Einfach so. Ein Märchen zum Anfassen. Schön schrecklich, schön Wirklichkeit. - Ich mag es kaum mehr sagen. Was sag ich! Ich kann es noch gar nicht fassen. Ich habe es gar nicht sagen können! Bisher. Hundertfach, tausenfach, millionenfach, erfrierende Wirklichkeit - hinter mir. Neben mir. Über mir. Was nun? Was tun? Zuhören. Zuhören. Und dann, weiter zuhören. Und nachfragen. Und dann Demos gegen Berin und Konsorten und Herrhausens smarten Zangengriff! - ??? - In Potsdam, sagt Hendrik, hat die Neonazi-Szene eine Stammkneipe. Hendrik ist so ruhig, ich beneide ihn drum. Ich glaube, er beobachtet lange. Ich werde ihn bald besuchen. Nächsten Sonntag. Mit dem Fahrrad. Schönen Gruß

Franz Koch, 1/12

Einer hat auf unserem Bogen die „innen“ am Bürger ausgestrichen und den „Raum für eigenen Notizen“ zur „Fläche“ für eigene Notizen gemacht, auf der er folgende Ergüsse malerisch verteilt hat: Deutschlandhalle am 12.11.8

Noch vor Jahren dachte ich: „Einmal zu 'nem großen Konzert in die Deutschlandhalle und dann sterben“. Heute ist‘ s Wirklichkeit geworden! Hoffentlich sterbe ich jetzt nicht!

Die Hagen live macht nicht nur die Finger steif!

Bekommt man von Euch ein paar dufte Fotos vom Konzert in der Deutschlandhalle am 12.11.?

Frühling

Mein schönster Tag heut, denk ich.

Die Straßen sind noch feucht.

Herbstblätter fallen leise, wir stehen beide Hand in Hand, mich friert.

Vergessen alles rings um mich,

spür die ersten Sonnenstrahlen,

den Wind im Gesicht.

Mich schaudert, ein süßer Schmerz brennt in meiner Brust,

es krampft sich das Herz, ich preß ihre Hand,

was für eine Lebenslust.

Mir wird schwindlig.

Tief durchatmen, tiefer, noch tiefer, noch mehr!

Mein Körper zittert,

es schmerzt so sehr.

Beginnen zu stürzen in eine schier unendliche Glückseligkeit

möchte singen, tanzen und lachen,

bin wie befreit.

Mir ist, als träum‘ ich einen längst vergessenen Traum.

Mir ist, als träum‘ ich ein Leben, ein Leben als Anderer

stark wie ein Baum.

Mir ist, als brenne die Sonne jetzt mit unbändiger Kraft,

mir wird heiß, mein Blick wird verschwommen,

Tränen mit Macht.

Ich will mich beherrschen,

es ist so unendlich schwer,

denn Hoffnung keimt in mir,

mehr und mehr.

Ich öffne die Augen,

sie sind noch da, die tausend Leute.

Hör ihre Stimmen „Demokratie, Hier und Heute“

Und hör ganz nah: „Umarm mich mein Schatz“

Frühling am 4. November, Berlin-Alexanderplatz.

Schön? Und geheult? Tschö!

Michael Bert, Berlin-Friedrichshain

Berlin, Berlin,

Die Massen strömen. Man hat mir einfach ein Stück Heimat geklaut. Keine ruhige Stammkneipe mehr, statt dessen Kleinfamilienidylle mit Spießbürgereinschlag. Rassisten unter den Deutschen, vereinigt euch. Jetzt gibt's endlich genug Menschenmaterial, um die Türken, Griechen, Italiener, Polen und alles andere Gesocks nach Hause schicken zu können.

In der Halbstadt sitzt frau plötzlich in der Falle. Immer mehr Löcher in der Mauer, durch die immer mehr Deutsche reinströmen. Kommt, kommt, kommt zuhauf. Jetzt isses endlich umgekehrt, die WestberlinerInnen sind hinter Gittern bzw. Mauern und kommen nicht raus. Hilfe, Hilfe, Platzangst.

Kein Kiez mehr, in Achterreihen geht's nicht nur übern Kudamm, sondern auch durch die Oranienstraße, wann fliegen endlich die Steine gegen diese Invasion quasi von der Wega.

Ich will meine Ruhe wieder haben!

P. S. Die Ungarn sind schuld, hätten sie nicht noch zehn Jahre warten können mit dem Abbau der Grenzen?

Sabine Kemna, 1/61

trümmerstadt zwei

die menschlichkeit

hämmert abermillionen löcher

in abermillionen mauern

auf dem todesstreifen

liegen rosa luftballons

art is freedom

und nie war sie so wertvoll

wie heute

die mörder sind immer noch

unter uns

und berlin wird immer größer

wir müssen auf der hut sein

but anyway,

test the west!

Sigrid Simon, 1/61