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Die Koalition muß neu verhandelt werden

■ Interview mit dem AL-Mitglied und politischen Idealisten Christian Ströbele, dem „Vater der Koalition“, über die Rolle von Rot-Grün nach der Öffnung der Grenze, über „Jahrhundertchancen“, „autofreie Stadt“ und die Möglichkeit eines „Roll-back“

taz: Die Situation in der Stadt hat sich, seit der Koalitionsvertrag abgeschlossen wurde, radikal verändert. Ist denn noch irgend etwas aus der Vereinbarung brauchbar?

Christian Ströbele: Es kann gar kein Zweifel sein, daß die Koalitionsvereinbarung zum größten Teil überflüssig wird. Da müssen sich die AL und die SPD hinsetzen und in vielen Bereichen, Umwelt, Verkehr, Wohnen, neue Konzepte entwickeln.

Die AL hat in den letzten Monaten, das ist häufig kritisiert worden, nicht offensiv Regierungspolitik gemacht, sondern sich an defensiven Verhinderungsstrategien festgehalten. Trauen Sie der AL die Aufgabe zu?

Wir sind jetzt in einer ähnlichen Situation wie nach dem 29. Januar. Ich glaube, daß die AL solche Situationen braucht, um in Bewegung zu kommen. Die Probleme, mit denen sich die AL in den letzten Monaten rumzuschlagen hatte, sind jetzt möglicherweise gar keine Probleme mehr und lösen sich von selber.

Wenn jetzt die Ziele der Koalition neu verhandelt werden, wenn Politik für eine ganze Stadt gemacht werden soll, müßte da nicht die Ost-Seite auch dazu gehört werden?

Ich denke, die offiziellen Stellen sind im Augenblick nicht in der Lage, über die Tagesaktualität hinauszudenken. Die Oppositionsgruppen sind auch erst dabei, sich zu formieren. Aber ich denke schon, daß in Zukunft bei allen Gesprächen über die Stadtpolitik, wenn zwar nicht leibhaftig, so doch im Geiste die Oppositionsgruppen und die DDR mit am Tisch sitzen müssen.

Es gibt ja Punkte in der Koalitionsvereinbarung, an denen die AL zurückgesteckt hat, wo euch aber jetzt die Geschichte entgegenkommt. Beispiel Abbau allierter Truppen in Berlin. Sollte die AL hier wieder aktiv werden?

Diese Forderung der AL und der Grünen muß jetzt sofort wieder auf die Tagesordnung. Nicht nur in Berlin, sondern auch im Bundesgebiet. Damit könnte ein Großteil der stadtpolitischen Probleme sofort gelöst werden. Wenn wir die Wohnungen, die jetzt die alliierten Soldaten und ihre Familien bewohnen, an die Übersiedler verteilen könnten, wären wir den Hauptdruck schon gleich los.

Momper hat aber gerade gesagt, er fände es überflüssig, über die Truppenreduzierung zu sprechen.

Nun gut, die SPD hat viel mehr Verbindlichkeiten gegenüber den Alliierten. Gerade deshalb ist es Aufgabe der AL, das jetzt anzusprechen. Das muß so heftig in der Stadt diskutiert werden, daß auch die Alliierten selber anfangen, darüber nachzudenken.

Haben Sie denn eine Vorstellung, wie Berlin in zehn Jahren aussehen könnte. Mir fällt immer Frankfurt ein.

Hoffentlich wird es nicht so. Ich habe ja während der Koalitionsbildung immer von der „Jahrhundertchance“ geredet und bin deswegen belächelt worden. Wenn es damals vielleicht etwas vorschnell war, so ist es jetzt doch an der Zeit, von dieser „Jahrhundertchance“ zu reden. Wir haben jetzt zum ersten Mal die Chance, ganz neue Politik zu machen, die tatsächliche ökologische Politik ist, auch im Wirtschafts und Sozialbereich. Zum Beispiel eine Verkehrsgestaltung in einer Weltstadt Berlin, aus der die Autos weitgehend verschwinden. Gerade durch die Trabis wird das Thema „autofreie Stadt“ wieder aktuell. Und man kann jetzt auch ganz neu denken, weil in der DDR noch nichts vorgegeben ist an alter Politik. Wir können hier wirklich innovativ tätig werden.

Ich denke eher das Gegenteil. In der DDR ist doch überhaupt kein breites Bewußtsein für zum Beispiel das Thema autofreie Stadt. Ist da nicht eher zu befürchten, daß es zu einem Roll-back kommt?

Sicher, die Gefahr ist, daß es in allen Bereichen genau in die falsche Richtung geht. In der Wirtschaftsfrage und auch in der Frage Ökologie. Wir stehen an dem historischen Punkt, wo es in die eine oder die andere Richtung gehen kann. Aber wir haben eben die Chance, dabei zu helfen, eine demokratische und ökologische Wirtschaft aufzubauen.

Der Regierende Bürgermeister macht sich ja derzeit sehr stark in Sachen Ostpolitik. Er knüpft da nahtlos an die Zeiten der Sozialliberalen Koalition an. Es sieht so aus, als geht Rot-Grün darin unter.

Also, erst mal denke ich, daß Momper das gut macht. Er ist überall präsent und sagt akzeptable Sachen. Natürlich besteht da die Gefahr, daß das jetzt alles aufs sozialdemokratische Konto gebucht wird. Die AL muß jetzt nicht, wie die Sozialdemokraten mit Momper, mit Personen arbeiten, sondern mit Inhalten. Das war schon immer ihre Stärke und da hat sie auch in der DDR ein offenes Feld.

Ich hatte am letzten Freitag bei der Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg den Eindruck, hier wird auch Wahlkampf gemacht, und zwar sozialliberaler Wahlkampf. Brandt, Genscher und Momper waren sich sehr einig. Kohl wurde ausgepfiffen. Ist da nicht die Tendenz zu spüren, daß die Entwicklung im Osten zur Geburtshelferin einer neuen sozialliberalen Koalition wird?

Das war auch mein Eindruck, und ich finde es falsch, daß die AL nicht darauf bestanden hat, daß jemand aus ihrem Spektrum oder von seiten der Opposition drüben hat reden können. Von der Stimmung der Leute auf dem Platz her glaube ich, eine AL-Position wäre genauso angekommen. Die SPD muß jetzt die Entscheidung treffen. Will sie mit Genschers Ostpolitik den Kapitalismus, und zwar den reinen Kapitalismus, wie er von Graf Lambsdorff vertreten wird, in der DDR einführen oder will sie mit der AL und den Grünen neue ökologisch-demokratische Wege gehen. Für die AL kommt es jetzt darauf an, Konzepte zu entwickeln, die auch für die Mitglieder der SPD verlockend sind. Zentraler Punkt ist die Wirtschaft.

Werden Sie wieder aktiv an der „neuen Koalitionsvereinbarung“ mitarbeiten, gibt es ein Come -back?

Aber ganz sicher.

Interview: bf

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