Das letzte Opfer

■ Egon Schiele in Wien und München

Jetzt also tritt Egon Schiele gegen Boris Becker an.

Denn die Großbanken sind angetreten, den internationalen Kunstmarkt zu übernehmen: Kunst ist ein imagefördernder Werbeträger, gerade so, wie es der Sport sein kann. Das Engagement gilt nicht nur dem Erwerb der van Goghs und Picassos, an denen Prestige sich mißt, gilt nicht nur den Cucchis und Ueckers, die wie Wertpapiere in den Tresoren schlummern, nein, die Banken haben sich jetzt auch der Vermittlung von Kunst angenommen. Das Kunstforum Länderbank Wien und die Kunsthalle der Hypo(Hypobank)-Kulturstiftung sind nur zwei Beispiele dafür. Imagepflege unter Steuerersparnis lautet die Devise.

Jetzt also tritt Egon Schiele gegen Boris Becker an. Und der Erfolg dieser Kunsthallen spricht für sich. In München haben in einem Monat 41.000 Besucher die Schiele-Ausstellung gesehen.

„Wir wissen das nicht genau, möglicherweise ist es Sexualsymbolik.“ Schiele wird 1913 wegen der Verbreitung unsittlicher Zeichnungen nach 17 Tagen Untersuchungshaft zu drei Tagen Arrest verurteilt. Die Verführung Minderjähriger ließ sich leider nicht nachweisen; allein, der Richter - ein Sammler pornographischer Arbeiten des Biedermeier - fühlte sich doch in der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, wenigstens symbolisch eine Zeichnung zu verbrennen. Der Durchbruch des Geschlechtlichen, das nicht an die pikante Darstellung gebunden bleibt, ist das Unerhörte im Werk Schieles; das K.u.k.-Bürgertum hat das als Provokation begriffen, als Skandal: Ein kurzer Schritt nur führt vom Geschlechtlichen zur Unsittlichkeit.

Heute hat sich der Skandal verschoben. Schiele ist von der Kunstwelt als einer der ganz großen Maler dieses Jahrhunderts akzeptiert worden, und das Publikum hat sich diesem Diktum unterworfen. Aber es bedient sich einer List: Es hat die Kunst, die noch vor 70 Jahren Anlaß zur Empörung bot, Kultur werden lassen und damit in das große zivilisatorische Reservat abgedrängt. An der Ausstellung der Sammlung Leopold - sie umfaßt außer der größten Schiele -Sammlung Werke seiner Zeitgenossen wie Klimt und Kokoschka

-läßt sich beobachten, was mit der Kunst geschieht, die als kulturelle Ware zum allgemeinen Konsum freigegeben wird. Es gibt dann keinen Unterschied zwischen einem Juwelenei Farberges und einem Gemälde Schieles. Auf den unvermeidlichen Tragetaschen abgebildert, bevölkern sie die Fußgängerzonen der Städte: Gibt es noch etwas, das dem Zwang zur Umwandlung ins Dekorative widerstehen könnte?

Das bürgerliche Publikum erblindet vor den Bildern: an den Rand seiner Wahrnehmungsfähigkeit gedrängt, kleistert es den ehemaligen Skandal des Werkes zu. Wo vormals Pornographie gewittert wurde, wird heute gequälte Sexualität diagnostiziert; damit gewinnen die Bilder eine Würde, die sie überhaupt erst ausstellbar werden läßt. Wo vor der Lust die Qual steht, bewegen wir uns im Rahmen der hehrsten Bestimmungen des Menschen, zwischen dem Topos vom Sündenfall und seiner säkularisierten Version vom geworfenen Menschen. Diese begriffliche Einebnung läßt die Bilder selbst zugunsten von vorgeprüften ästhetischen und philosophischen Floskeln verschwinden. Jetzt wird das bürgerliche Herz weich: der leidende Künstler - und so einer muß Schiele gewesen sein, sonst wären seine Gestalten nicht so angstvoll verzerrt - wird zum verlorenen Sohn. Im dunklen Bewußtsein einer alten Schuld schließt das Publikum Schiele in seine Arme. Dann werden die „hübschen“ Bilder Schieles malerische Größe belegen und die „häßlichen“ die Größe seines Leides. Das Erblinden des Publikums schaltet alle Gefühle aus, die das Werk ehemals hatte. Diese Neutralität ist ein Charakteristikum bürgerlicher Kultur: Möge mich die Gleichgültigkeit von jeder Berührung schützen. Gleichgültigkeit ist die Bedingung des Genusses; es ist das letzte Opfer der Kunst, Kultur zu werden.

Und wenn da nicht noch ein paar alte Frauen wären, die mißbilligend auf die jungen Eltern schauen, die ihre kleinen Kinder in die Ausstellung mitgenommen haben - „der sieht so wie ein Pavian aus, der ist so lang!“ sagt ein kleines Mädchen über den sitzenden männlichen Akt mit der leuchtenden Eichel -, dann wäre das Bewußtsein vom Skandal völlig verflogen - verflogen auch die Chance, den Riß in der Welt zu sehen.

Nur das „voyeuristische Element“, das es laut Führung „bei dem großen deutschen Expressionisten Schmidt-Rotluff nicht geben wird“, macht noch ein bißchen zu schaffen. Warum auch müssen die entkleideten Frauen Stiefel und Strümpfe tragen, warum werden Röcke und Tücher so angehoben, daß nichts verdeckt bleibt, nicht einmal der Wille, alles zu sehen? Kurzerhand wird unterschwellig die „Natürlichkeit und Vitalität“ des deutschen Expressionisten gegen die Dekadenz des Österreichers gestellt. Und plötzlich ist in Gedanken eine alte Argumentation präsent, und ein Urteil wird erinnert: entartete Kunst. Und wie schnell läßt sich dann in Gedanken doch noch der Tod des 28jährigen umschreiben: hinter der spanischen Gruppe lauert, kein Zweifel, die Syphilis.

Eine Tradition der radikalen figurativen Malerei, begonnen mit Goya, ist in den Akten Schieles sichtbar. Die Befragung des Menschen, die so raumgreifend und absolut ist, daß sie jeden Hintergrund aus dem Bild zwingt. Was bleibt, sind ein Rest von Farbe, die Linie, deren Meister Schiele ist. Und der nackte Mensch. „Auch das erotische Kunstwerk hat Heiligkeit“, schreibt Egon Schiele 1911. Damit ist eine Anweisung zur Wahrnehmung gegeben, die den Betrachter zur Kunst führt.

Die vorzügliche Ausstellung ist noch bis zum 7.Januar täglich in der Kunsthalle der Hypo-Stiftung München zu sehen, anschließend im Von der Heydt Museum, Wuppertal. Der Katalog mit 145 Farbtafeln kostet 45 Mark.

Armin Adam