Den Abgeordneten die Augen geöffnet

Über die wirtschaftliche Lage wurde bisher gelogen / In „ausgeglichenem Haushalt“ Kredite verschwiegen / Inflationsrate auch den leitenden Kadern unbekannt / Von Ardenne fordert „sozialistische Marktwirtschaft“  ■  Von Walter Süß

Berlin (taz) - Erstaunliche Einblicke in das Funktionieren der „Planwirtschaft“ in der DDR vermittelte die Sitzung der Ostberliner Volkskammer am Montag. Dabei sollte ständiger Einblick eigentlich selbstverständlich sein: Seit den Tagen des Spätfeudalismus ist die Verfügung über das Geld, den Staatshaushalt, die zentrale Funktion eines Parlaments.

Die Abgeordneten mußten jetzt erfahren, daß sie in diesem Punkt schlichtweg belogen worden waren. Auf eine Anfrage nach der finanziellen Situation erklärte der noch amtierende Finanzminister Ernst Höffner, wenn er in der Vergangenheit vor der Volkskammer von einem „ausgeglichenen Haushalt“ gesprochen habe, dann seien die darin enthaltenen Kredite verschwiegen worden. Auch der Staatsrat sei nicht korrekt informiert worden. Das bezeichnete er als „Frage von Schönfärberei und fehlendem Mut“. Abgeordnete qualifizierten es anschließend etwas härter: als „Lüge“.

Die DDR ist im Inland mit 130 Milliarden Mark verschuldet. Ein zentrales Beispiel für die verdeckte Kreditfinanzierung ist der Wohnungsbau. Dafür seien bis 55 Milliarden Mark Schulden gemacht worden. Auch jetzt erhielten die Abgeordneten keine Auskunft über die Verschuldung in westlichen Ländern. Der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, äußerte zwar „tiefe Scham“, daß die Volkskammer keine ungeschminkten Berichte erhalten habe, war aber nicht bereit, Angaben zur Außenverschuldung zu machen. Das sei „geheime Verschlußsache“ - auch gegenüber dem höchsten Staatsorgan.

Etwas Aufschluß über die wirtschaftliche Lage war dennoch zu gewinnen. Auf die Frage, ob es richtig sei, daß die Inflationsrate in der DDR derzeit zwölf Prozent beträgt, gab sich der Finanzminister zwar ratlos. Er, der seit Jahren statistische Daten veröffentlicht hatte, die absolute Preisstabilität postulieren, erklärte jetzt, das Ausmaß der Geldentwertung lasse sich nicht exakt einschätzen. Jedoch: Preissteigerungen, die mit angeblichem Wachstum des Gebrauchswertes begründet worden waren, seien in Wirklichkeit versteckte Preiserhöhungen gewesen.

Die Devisenrentablität, seit Jahren ein gut gehütetes Geheimnis, sei - so Höffner - in den achtziger Jahren um fast die Hälfte gesunken. Während 1980 für eine Valutamark 2,40 DDR-Mark aufgewendet werden mußten, seien es derzeit 4,40 DDR-Mark. Ob diese Zahlen korrekt sind, kann indes ebenfalls bezweifelt werden. Günter Schabowski hatte kürzlich bei einem „Bürgergespräch“ eine Devisenrentabilität von etwa 1:7 erwähnt. Die Verluste durch die Verschlechterung des Verhältnisses von inländischem Aufwand und ausländischem Ertrag hätten sich zu Verlusten von 65 Milliarden Mark kumuliert. Zumindest zum Teil sind die Mindereinnahmen offenbar durch Kredite finanziert worden, denn Höffner sprach davon, daß diese Verluste in den 90er Jahren zu begleichen seien.

Darüber, wie „Planung“ tatsächlich funktioniert hat, informierte der ehemalige Ministerpräsident Stoph. Er berichtete, daß durch Entscheidungen, „die nicht im Ministerrat getroffen wurden, die planmäßige proportionale Entwicklung der Volkswirtschaft stark beeinträchtigt“ sei. Erst auf Nachfragen machte er deutlicher, was damit gemeint ist. Honecker und Mittag, der damalige ZK-Sekretär für Wirtschaft, hätten, an allen verfassungsmäßigen und sonstigen Gremien - selbst dem Politbüro - vorbei, eigenmächtig Investitionsentscheidungen getroffen. Beispiele: Mikroelektronik und das Düngemittelwerk in Rostock. Diese Projekte seien nachträglich „in den Plan gedrückt worden“.

Schürer, der Planungschef, versuchte sich in die Reihe derer einzuordnen, die es schon früher besser gewußt haben. Er berichtete, daß er im Mai 1988 bei Honecker um eine Aussprache über eine Änderung der Wirtschaftspolitik nachgesucht hatte. U.a. habe er dabei einen Abbau der überbordenden Subventionen, die derzeit 58 Milliarden betragen (1970: acht Milliarden), gefordert. Als Reaktion sei ihm „die unwissenschaftliche Frage“ gestellt worden: „Bist Du für Subventionen oder Preis-Lohn-Spirale?“ Mittag hätte ihn anschließend im Politbüro „mit falschen Aussagen und Verleumdungen“ attackiert.

Mit wirtschaftsreformerischen Vorschlägen trat auf der Volkskammertagung Manfred von Ardenne, das Allroundgenie der DDR-Wissenschaft, hervor. Der Angehörige der Fraktion des Kulturbundes konstatierte ein erschreckendes Wirtschaftsgefälle zwischen der BRD und DDR. Abhilfe könne nur eine andere Wirtschaftsstruktur bringen: „Abkehr vom hochbürokratischen Zentralismus, das heißt drastische Einschränkung der zentralen Planwirtschaft und Übergang zu einer sozialistischen Marktwirtschaft.“ Unbewegliche zentralgeleitete und alle bezirksgeleiteten Kombinate müßten aufgelöst werden und mittlere und kleinere Betriebe auch auf privater Basis gefördert werden. Die meisten Subventionen seien abzubauen, wobei „soziale Härten“ zu vermeiden seien. Angesichts des Zieles einer konvertierbaren Währung sei zu fragen, ob das staatliche Außenhandelsmonopol noch sinnvoll ist.