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Erste Wahl für zweiten Urnengang

BrasilianerInnen wählen heute zum erstenmal seit 29 Jahren einen Präsidenten / Entschieden wird nur, wer im zweiten Wahlgang im Dezember gegen Fernando Collor, den Kandidaten der Rechten, antritt: ein Sozialdemokrat, ein linker Populist oder Arbeiterführer Lula  ■  Aus Sao Paulo Thomas Schmid

Ein Verlierer steht schon fest, wenn die Brasilianer heute zum erstenmal seit 29 Jahren wieder zu Präsidentschaftswahlen gerufen werden: Jose Sarney, amtierender Präsident. 1985 als Vize ins höchste Staats amt gerutscht, nachdem Tancredo Neves, der erste zivile Präsident nach 21 Jahren Militärdiktatur, noch vor Amtsantritt unerwartet verstarb. Sarneys Partei, die konservative PFL, schickt einen völlig aussichtslosen Kandidaten ins Rennen: Aureliano Chaves, während der Militärdiktatur Vizepräsident und unter Sarney zeitweilig Energie- und Bergbauminister. Chaves wird vermutlich gerade ein Prozent der Wählerstimmen gewinnen. Selbst in seiner eigenen Partei findet er kaum Unterstützung.

Angesichts der desolaten Lage hatte sich Sarney für ein kühnes Unternehmen entschlossen: Knapp zwei Wochen vor dem Urnengang meldete der äußerst populäre TV-Entertainer und Besitzer der zweitgrößten Fernsehkette des Landes, Silvio Santos, seine Kandidatur an (siehe taz vom 10.11.). Der Entertainer, dem echte Chancen für das Präsidentschaftsamt vorausgesagt wurden, mußte seine Kandidatur eine knappe Woche vor der Wahl jedoch zurückziehen. Das oberste Wahlgericht stellte am letzten Donnerstag einstimmig fest, daß die Partei, die Santos sich ausgesucht hat, nicht anerkannt werden kann: Die kleine PMB, eher ein Familienunternehmen als eine Partei, hat sich nicht in mindestens neun Bundesstaaten konstituiert und kann deshalb keinen Präsidenten stellen. Das Gericht befand zudem, daß Silvio Santos nicht kandidieren dürfe, weil er nicht drei Monate vor dem Wahlgang von Leitungsfunktionen seines Fernsehimperiums zurückgetreten war.

Mit dem Ausscheiden von Silvio Santos steht nun zumindest einer der beiden Kandidaten für den zweiten Wahlgang im Dezember fest: Fernando Collor. Der 40jährige Parvenu, der sich noch vor fünf Jahren als Mitglied des Wahlrats für Maluf, den damaligen zivilen Präsidentschaftskandidaten der Militärs, ausgesprochen und bereits fünfmal die Partei gewechselt hat, wird etwa 25 bis 30 Prozent der Stimmen und damit den ersten Urnengang gewinnen. Collor, dessen Familie einen Fernsehkanal, zwei Radiosender und eine Tageszeitung besitzt, hat seinen Aufstieg vom Provinzpolitiker zum nationalen Politstar dem Management des 84jährigen TV -Magnaten Roberto Marinho zu verdanken. Coller, der für ein stramm rechtes Programm steht, bestritt seinen Wahlkampf vor allem mit Attacken auf den ohnehin unpopulären Sarney. Der sei ein „korrupter Gauner und Betrüger“, verkündete er sogar im Fernsehen in einem Wahlspot.

Wer sich beim heutigen Urnengang als zweiter für das Finale Mitte Dezember qualifiziert, ist noch offen. Die meisten Chancen hat der linkeste aller Kandidaten, der 44jährige frühere Metallarbeiter Luis Inacio Lula da Silva. Er kandidiert für die „Volksfront“, ein Bündnis von Lulas starker, linkssozialistischer „Arbeiterpartei“ (PT) und zwei kleineren Linksparteien. Auf seiner Abschlußkundgebung in Sao Paulo, zu der am Sonntag über 100.000 Menschen zusammenströmten, wiederholte Lula sein Versprechen, bei einer Agrarreform den Großgrundbesitz zu enteignen. Die Bezahlung der Auslandsschulden werde für immer eingestellt und die Beziehungen zum internationalen Währungsfond abgebrochen. Zudem will Lula als Präsident die staatliche Subventionierung der Privatindustrie überprüfen und das Finanzwesen stärker einer staatlichen Kontrolle unterstellen.

Die Kandidatur Lulas wird nicht nur von der PT und der CUT, der inzwischen stärksten Gewerkschaft des Landes, unterstützt. Einen Präsidenten Lula wollen vor allem auch Zehntausende Basisgemeinden der sozial engagierten katholischen Kirche.

„Die PT ist im ganzen Land von der Kirche gegründet worden

-von der sogenannten progressiven Kirche, die eine radikale kleinbürgerliche Bewegung ist und einen Vorzeigearbeiter hat“, wettert Leonel Brizola. Der linke Populist, einer von zahlreichen Vizepräsidenten der Sozialistischen Internationale, führte seinen Wahlkampf in den letzten Tagen vor allem gegen Lula. Unter dessen Regime würden alle Arbeiter, die sich anderswo als in der CUT organisieren, auf dem Scheiterhaufen landen, prophezeite er auf einer Veranstaltung.

Brizola, selbst Besitzer von 3.200 Hektar Land im benachbarten Uruguay, spricht sich bloß für eine sehr beschränkte Agrarreform aus. Die Begleichung der Auslandsschuld will er neu verhandeln und den Schuldendienst auf höchstens 15 Prozent der Exporteinnahmen beschränken. Eine starke Basis hat Brizola im Bundesstaat Rio de Janeiro und in seinem Heimatstaat Rio Grande do Sul. Ein signifikanter Gewinn in den bevölkerungsreichsten Bundesstaaten Sao Paulo und Minas Gerais, wo ein Drittel der Brasilianer wohnt, ist dem linken Caudillo nicht gelungen. Dort ist er nicht nur Lula, sondern auch dem Sozialdemokraten Mario Covas unterlegen.

Auch Covas gilt als möglicher Anwärter auf den zweiten Urnengang. Vor allem in Kreisen der aufgeklärten Mittelschicht und der Intelligenzija, kommt seine Parole von der „Entprivatisierung des Staates“ gut an. Und es ist durchaus möglich, daß Wähler der traditionellen Parteien der Mitte und sogar des rechtsliberalen Lagers angesichts der Chancenlosigkeit ihrer Kandidaten im letzten Moment zu Covas umschwenken und ihn in die zweite Runde hieven.

Es gilt als wahrscheinlich, daß einer der drei Kandidaten aus dem linken Lager (Lula, Brizola, Covas) im zweiten Wahlgang gegen Collor antreten wird. Alle drei haben reale Chancen, Collor in der zweiten Runde zu schlagen. Sollte Lula, der zweifellos die deutlichste Alternative zur herrschenden Politik verkörpert, heute nach Collor zweiter werden, wird es in Brasilien zu einer extremen Polarisierung kommen. Ein Präsident Lula wäre schließlich in einer ähnlichen Lage wie der Chilene Salvador Allende nach seiner Wahl 1970. Er müßte - mindestens bis zu den Parlamentswahlen im November nächsten Jahres - gegen einen mehrheitlich konservativen Kongreß regieren. Radikale Agrarreformen wären dort schwerlich durchzusetzen. Reformen, die das Los der Millionen, die ihre Hoffnungen auf den Arbeiterführer setzen, kurzfristig entscheidend verbessern, erlaubt die katastrophale Wirtschaftssituation ohnehin kaum. Und niemand weiß, wie lange die Militärs einen Lula als Präsidenten überhaupt tolerieren würden. Die Frage steht im Raum, wird aber kaum öffentlich debattiert. Noch nicht.

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