Der Ring wird zur Dauerschleife

■ Trotz Reisereform und SED-Selbstkritik: Mehr als 200.000 auf der allmontäglichen Leipziger Ring-Demo / Losungen gewinnen weiter an Schärfe und Vielfalt / Unsichtbare Vopo / Menschenkette vor dem Stasi-Gebäude / Großdemonstrationen in vielen anderen Städten

Leipzig (taz) - Es sollen weniger als letzte Woche gewesen sein, die da am Montag abend über den Ring zogen. Doch ob es nun 200.000 waren, wie die DDR-Presseagentur 'adn‘ meldete, oder 300.000, wie durch die Reihen der Demonstranten weitergegeben wurde - daß sich überhaupt jemand trotz Kälte und beißendem Smog auf die Straßen wagte, zeigt, in welchem Maße sich in Leipzig eine Protestkultur etabliert hat, die auch die Reisefreiheiten nicht stillzustellen ist: „Offene Grenzen ganz allein, kann nicht dier einzige Freiheit sein“, wurde gereimt.

Vor dem Sitz der Stasi hatten sich Mitglieder des Neuen Forums zu einer Menschenkette aufgereiht, um einen Sturm auf das Gebäude zu verhindern.

Vopos waren, nicht nur wegen dem Nebel, nicht zu sehen. „Folterknechte ! - Dem Volk zum Wohle - Stasi in die Kohle“ wurde geschrieen, doch die Wut ließ sich noch einmal in das Aufstellen von Kerzen transformieren.

Die lang erwarteten Redebeiträge der Oppositionsgruppen blieben mangels einer funktionierenden Lautsprecheranlage wieder aus. Per Megaphon warnte das Forum vor dem Ausverkauf der DDR durch „Schwarzarbeit und Schacher“. So blieb im wesentlichen den Transparenten und Parolen das letzte Wort. Es sind nicht mehr nur die Forderungen nach freien Wahlen und einer Beschränkung der SED-Allmacht. Kein Bereich in Politik und Gesellschaft, der es nicht lohnt, infrage gestellt zu werden: Die Verrottung der Leipziger Innenstadt wird auf sehr vielen Plakaten angeprangert, die Wiedervereinigung wird öfter angesprochen, als noch letzte Woche. Ein versprengter Deutschnationaler trägt sogar einen Spruch vom „Deutschen Bauer auf freier Scholle“ vor sich her und an der Litfaßsäule vor der Universität fordert eine Basisgruppe Psychiatrieopfer die „Rechtssicherheit bei Zwangsbehandlung“.

Auch in Karl-Marx-Stadt, Dresden, Cottbus, Magdeburg, Neubrandenburg und Schwerin waren Montag abend insgesamt rund 200.000 Menschen auf den Straßen.

smo