LANDSCHAFT MIT TRENCH

■ „Le deuxieme souffle“ von Jean-Pierre Melville erstmals in französischer Originalfassung

Es gibt Gold-, Platin- und Zigarettenströme; es gibt Menschen, die darin Einschnitte vornehmen und deshalb zu Verbrechern werden; es gibt andere, die den ungehinderten Lauf der Ströme erhalten wollen und deshalb zu Opfern werden; es gibt frei flottierende Auto-, Revolver- und Hutmantelaccessoires; es gibt Ehrbegriffe wie Integrität, Verschwiegenheit, Zivilcourage, die eine solche Einschnittnahme zusätzlich komplizieren; es gibt ereignisheischende Räume wie rauhe Landschaften, kahle Straßenschluchten, wohl gestylte Interieurs; es gibt erhabene Schwarz-Weiß-Kontraste und formale Bildkompositionen: Das alles zusammengeführt zu haben macht Jean-Pierre Melvilles Filmstil aus.

Hart und genau die Exposition: Eine Strickleiter wird über eine Mauer geworfen, drei Männer springen über einen Schacht, einer rutscht ab, die beiden anderen klettern von der Mauer herunter, eine Tür wird geöffnet - der erste Teil der Flucht ist geglückt. Die beiden laufen neben einem fahrenden Zug her, Nummer 1 springt auf, Nummer 2 setzt an und rutscht ab, setzt erneut an, Nummer 1 greift ihm unter die Achsel, Nummer 2 springt auf das Trittbrett auf - der zweite Teil der Flucht ist geglückt. Nummer 1 springt wieder vom Zug, läuft hinein in den Wald, winkt Nummer 2 von ferne zu - eine letzte Geste der Solidarität, dann ist der Mann mit seiner Flucht allein.

Das alles ohne ein Wort. Nummer 2 ist eigentlich Nummer 1, ist Lino Ventura, der Protagonist des Films, derjenige, dessen endgültiger Fluchtversuch jetzt getestet wird. Und wie in der Exposition schon angedeutet, ist sein Atem kurz geworden in acht Jahren Gefängnisaufenthalt - daß ihm der zweite Anlauf nicht gelingen kann, hat eigentlich schon das metaphysische Rattern des Zuges gezeigt.

Die Nachtclubbesitzerin Manouche hatte früher was mit dem entflohenen Häftling Ventura zu laufen, weshalb er jetzt auf dem schnellsten Weg zu ihr kommt; während zwei Killer ihr wegen irgendwelcher Zigarettenschiebereien auf den Leib rücken, robbt Ventura heran, drückt ihnen die Knarre in den Rücken, und schon geht das Spiel andersherum. Aber nach der Logik des „einmal gespielt - immer verloren“ verheddert er sich durch dieses prompte Comeback nun endgültig in das unausweichliche Gangsterschicksal: So etwas wie das „Sein zum Tode“ wird uns in seinem Niedergang nicht zuletzt mit Hilfe einer Ameisenmetaphorik und mühsam zu erkletternder Seealpenserpentinen vorinszeniert.

Zunächst aber kann er in einer komplizierten, durch Wischblenden zusätzlich verlängerten Busreise dem gefährlichen Paris, wo er die beiden Killer durch besonders professionell-schöne Schüsse kalt gemacht hat, wie der Pariser Polizeikommissar anerkennend bemerkt, entfliehen. Alles scheint durch Manouche für seine endgültige Flucht aus Marseille vorbereitet, da wird ihm eine Mittäterschaft bei einem Platincoup angeboten, und schon hat er „keine andere Wahl mehr“. Der Kommissar ist nicht weniger professionell, er stellt Ventura eine Falle, preßt ihm, indem er einen einen Mitganoven mimt, ein Geständnis ab - da passiert dem Profi der erste wirkliche Fehler seines Lebens: Er läßt den Namen eines Mittäters fallen.

Meinte der „zweite Atem“ schon die Wiederholung des ersten Goldzugüberfalls, weswegen Ventura eingesessen war, so setzt jetzt - nach 90 Minuten Spieldauer - der Film im Film zum zweiten Anlauf an. Daß er den Namen eines Mittäters preisgegeben hat, kann ein Ventura auf den Tod nicht auf sich sitzen lassen; er widerruft sofort, wird von den Bullen grün und blau geschlagen (was in der gekürzten deutschen Fassung bisher nicht zu sehen war), ins Gefängnishospital transportiert und bringt zuerst den Polizeikommissar von Marseille um, nicht ohne ihm vorher das schriftliche Geständnis abzupressen, daß das mit dem „Singen“ nur dessen Verleumdung war, und bringt dann den Rest seiner Komplizen um. Bei dem Schußwechsel freilich kommt er nicht ungeschoren davon: Er kann sich nur noch ins Treppenhaus schleppen und wird von den anrückenden Polizisten zu Ende gekillt. Aber nur der Körper des Helden stirbt. Daß seine Seele nicht stirbt, dafür sorgt der aus Paris angereiste Polizeikommissar, von Mannestugend besessen wie unser Held. Obwohl er Ventura zur Strecke gebracht hat, hat er ihn wegen seines hochkarätigen Ganoventums wie keinen anderen geliebt: Er sorgt dafür, daß das Geständnis des Marseiller Kommissars, das ihm der Sterbende übergibt, noch an die Presse gelangt.

Melville, der „Corneille der Unterwelt“, hat hier eiskaltes Raffgier-Killertum zur Männerbundschnulze überhöht. Obwohl im strengen Polizeiberichtstil erzählt, mit Angabe des Datums und ohne blutige Schauerszenen, wird vom einzelnen Outlaw immer wieder ins Allgemeinmenschliche aufgezoomt; die unverbrüchliche Verbundenheit in der Tat hat etwas mit der überwältigenden Landschaft und der stechenden Sonne zu tun; wohl gibt es ironische Szenen, wie wenn das Auto, das der Polizei verborgen bleiben soll, vor den Augen der Zuschauer ganz hinter einem riesigen Baum untertaucht; wohl gibt es den scheinbar humorig-melancholischen Kommissar, der erst gar nicht zum Verhör lädt, sondern das programmierte Nichtwissen der Beschuldigten gleich selber erzählt; vor allem aber gibt es viele Territoriumsabpinkelrituale, viel Schulterklopfen, Männer in einsamer Landschaft und doch alle gleich aussehend in schwarzen Trenchcoats und dunklen Hüten, lauter Konterfeis von Melville selbst, der, in Mantel und Hut, von seinem Regiestuhl aus Anweisungen zu Bildgrenze und Brennweite gab. Im Zentrum als Fetisch die einzige Frau, halb Barbiepuppe und halb Vamp, die stehenbleibt, wenn alle um sie herum niedersinken, vom Kommissar ebenso wie vom Hauptganoven geliebt.

Godard, für den Melville wie für die anderen Filmemacher der Nouvelle Vague eine Art Guru war, hat ihn in Au bout de souffle als Schriftsteller Parvulesco auftreten lassen, der, von Jean Seberg nach seiner größten Leidenschaft befragt, gesteht: „Unsterblich werden - und dann sterben“. Hat Godard seinen Film deshalb „Au bout de souffle“ genannt?

Michaela Ott

Ab heute bis voraussichtlich zum 31.12. im Moviemento